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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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Vorsichtig zog sie
einen Stein nach dem anderen heraus. Oben auf den Zinnen standen Wachen, die bei jeglichem Geräusch misstrauisch werden konnten … Ihre Hände begannen zu zittern.
    Madelin schloss die Augen und mahnte sich zur Ruhe. Sie würde Anna nicht helfen, wenn sie völlig aufgelöst und verängstigt vor diesen Osmanen trat. Sie gönnte sich ein paar Augenblicke, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Dann entfernte sie die Steine, bis das Loch groß genug war, und schlüpfte hinaus. Dabei blieb ihr Rock hängen und riss, doch sie hielt nicht inne und erhob sich. Sie hatte die schützenden Mauern von Wien hinter sich gelassen.
    Die junge Frau brauchte einen Augenblick, um sich zu orientieren, dann machte sie sich auf. Begossen vom bleichen Licht des Himmelsgestirns ragten die Ruinen der Gebäude vor dem Burgtor bläulich schwarz auf, jedes einzelne das Zeugnis einer vernichteten Existenz. Selbst jetzt, nach Tagen des Regens und der Kälte, nahmen Madelins lederbeschuhte Füße die dunkle Farbe der Asche an. Sie hielt sich geduckt, um sich sowohl vor den Wiener Schützen auf den Mauern wie vor den Osmanen zu verbergen.
    Wo mochten die Wachen sein? Hatten sie sich nahe bei der Mauer eingenistet, oder lauerten sie erst jenseits des halb abgebrannten Faschinenzauns, der die Vorstädte umgeben hatte? Sie versuchte zu lauschen, doch sie hörte bloß das Knirschen ihrer Schritte im Sand und das Rauschen des Blutes in ihren Ohren. Endlich erreichte sie die steinerne Brücke bei den Überresten des Bürgerspitals, die kahl im Mondlicht wirkte. Niemand konnte sie überqueren, ohne sofort den Wachen beider Seiten aufzufallen, und doch musste sie genau das tun, um in die Ruinen bei Sankt Anton zu gelangen. Madelin schob sich wieder ein Stück nach hinten in den Schutz einer Häuserwand und überlegte fieberhaft, was sie nun tun sollte.

    Da legte sich eine Hand auf ihren Mund und erstickte den Schrei, der ihr entfuhr. Eine zweite Hand griff ihr um den Leib und hob sie hoch. Durch die Nasenlöcher keuchend schlug sie um sich und versuchte, sich aus dem Griff zu winden, doch die Arme hielten sie fest und zogen sie in eines der ausgebrannten Gebäude hinein.
    »Willst du sterben?«, zischte eine Männerstimme mit fremdem Akzent. Ein Bart kitzelte ihr im Nacken. »Hör auf!«
    Als Madelin gehorchte und nickte, ließ er sie los. Schnell sprang die Wahrsagerin zurück und presste sich an die Mauer. Im Halblicht des Mondes sah sie einen Mann in weißer Kappe und fremdartigem Gewand vor sich. Er trug Säbel und Kurzbogen sowie einen Köcher mit Pfeilen. Doch er zog keine Waffe.
    »Wer bist du?«, fragte er gebrochen.
    »Ich soll hier einen Mann treffen, Mehmed. Bist du das?«
    »Du sollst zu Mehmed?«, fragte der Mann. Das Weiß seiner Augen leuchtete in der Nacht. »Schicken Männer jetzt schon ihre Weiber?«
    »Bring mich zu ihm! Ich habe, was er gefordert hat.« Madelin wusste nicht, ob die Wache eingeweiht war, deshalb sagte sie nicht mehr.
    Schließlich nickte der Mann. »Komm.« Er trat über die halb eingestürzte Wand des Gebäudes, die nach Süden hinausführte und bedeutete ihr, ihm zu folgen.
    Madelin zögerte. Wenn sie diesen schlimmen Plan, Anna und die Kinder gegen ganz Wien zu tauschen, aufgeben wollte, dann konnte, ja sollte sie jetzt weglaufen. Doch ihre Beine gehorchten nicht. Die junge Frau malte sich die Leiden der Schwester in schlimmsten Bildern aus. Sie folgte dem Fremden über die niedrige Mauer und hinaus in die Nacht.
    Der Osmane führte sie an die zertretene Böschung der Wien. Da die Landsknechte die Brücken aus Holz abgebrannt
hatten, lagen hier unter leise im Wind flüsternden Weidenbäumen mehrere Baumstämme nebeneinander, die von Ufer zu Ufer führten. Im Dunkeln hätte Madelin sie nie allein gefunden. Sie balancierte über das Holz und folgte dem Soldaten ins Gebiet der Janitscharen.
    Erst hinter der ehemaligen Befestigung des alten Sankt-Anton-Bollwerks leuchteten zwischen den halbverbrannten Gebäuden Zelte in der Dunkelheit. Eine Wache mit weißer Kappe kam vorbei, und Madelins Führer bedeutete ihr, sich zu ducken. Offenbar sollte der Austausch auch vor den eigenen Truppen geheim bleiben. Doch warum? Er führte sie direkt zur Antoniuskapelle am Spital. Die dicken Mauern des ehemals geweißten Gebäudes waren dunkel vor Rauch, die Dächer teilweise eingestürzt. Aus dem Innern drang durch die Fensteröffnungen matter Kerzenschein heraus.
    Madelin sah sich unsicher um. An den Ecken

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