Die Schicksalsleserin
ausgelesen?«
»Ich glaube nicht.«
»Dann kannst’ gar nicht wissen, ob es etwas bringt oder nicht«, entgegnete Madelin. »Lass den Kopf nicht hängen, ja?«
Doch Franziskus sah nicht auf, um ihrem Blick zu entgegnen, sondern stierte auf seine sehnigen Hände. »Ich kann kaum noch malen«, murmelte er.
»Denk an deine schönen Skizzen und Figuren - das ist eine Gabe. Das kommt wieder!«, versprach sie ihm eindringlich.
Er schwieg einen Augenblick. »Was, wenn nicht, Madelin? Wenn in mir etwas wohnt, was nur auf Zerstörung aus ist?« Seine Stimme klang schwach und mutlos.
»Franzl«, sagte sie beschwörend. »Ich weiß auch nicht, was dich plagt. Ich weiß nicht, woher es kommt. Aber eines weiß ich gewiss: Wenn du aufhörst zu kämpfen, dann hast du bereits verloren. Dann können wir dich auch gleich begraben.« Der Freund sah sie bestürzt an. Sie holte Luft und fuhr milder fort: »Ich kann dein Kreuz eine Weile lang für dich tragen, Franzl. Aber nicht den ganzen Weg. Dabei musst du mir schon helfen. Du musst kämpfen.«
Er presste die dünnen Lippen aufeinander. »Aber wenn ich doch nicht weiß, wie? Da ist dieser dunkle Schlund in meinem Geist, der mich einsaugt, wann immer ich einen neuen Anfall habe«, sagte er kraftlos.
Sie trat zu ihm und fuhr ihm durchs Haar. »Gib den Mut nicht auf. Vertraue auf Gott. Wenn du das nicht mehr kannst, dann vertraue mir! Wehr dich gegen die Dunkelheit, als hinge dein Leben davon ab. Denn das tut es, Franzl. Es hängt an dir, ob du lebst. Willst du leben?«
Er legte seine Hand auf ihre und sah sie an. Einen klammen Augenblick lang dachte sie, sein Schweigen sei bereits Antwort genug, dann nickte er. Madelin schloss dankbar die Augen.
»Das hatte ich gehofft.« Sie strich ein paar seiner Haarsträhnen zurecht - ein hoffnungsloses Unterfangen, denn der Rest war völlig platt gelegen. »Gemeinsam finden wir bestimmt heraus, was dich plagt und wie man es lindern kann. Wenn nur die Osmanen nicht hereinkommen, schaffen wir es durch diesen Sturm.« Das Primglöcklein schlug einsam eine neue Viertelstunde an. Sie fluchte stumm, dass die Zeit so drängte, denn
eigentlich wollte sie Franziskus jetzt nicht alleinlassen. Schon gar nicht für einen Gang, bei dem sie nicht einmal wusste, ob sie zurückkehren würde. »Aber jetzt muss ich wirklich gehen, Franzl. Kommst’ allein zurecht?«
Er nickte.
»Versprochen?«
»Ja. Versprochen.«
»Gut.« Sie zog ihren Umhang über und überprüfte, dass das Trionfi-Spiel sicher in ihrer Gürteltasche lag. Sie musste los, denn sie wollte nicht durch übermäßige Eile einen Verdacht auf sich lenken. Wenn jemand sie dabei erwischte, wie sie durch den Gang unter der Mauer kroch, dann würde man sie sicher für eine Spionin halten.
»Es tut mir leid«, murmelte Franziskus. »Ich bin dir bestimmt eine schreckliche Last.«
»Für einen Freund ist man keine Last, Depperl«, sagte sie mit einem Lächeln. Er erwiderte es matt. »Dann ist’ ja gut.«
Madelin eilte wieder in den Vorraum und band sich ihr Messer zwischen zwei zusammengenähten Lederstücken innen in den Bund ihres Rockes, so dass nur der Griff herauslugte.
Sie verstand Franziskus kaum, als er hinter ihr sagte: »Aber die Osmanen - die kommen schon nicht herein. Die Mauern haben uns zwei Wochen lang geschützt. Bald ist der Winter da, dann werden sie abziehen.«
Madelin hielt inne. Stand es wirklich so gut für Wien? Hätte die Stadt eine Chance zu überleben, wenn sie jetzt Anna aufgab und das Spiel nicht in die Hände der Türken lieferte? Sie wusste es nicht. Sie erinnerte sich des Blattes, das sie für Lucas gelegt hatte, bevor sie den Kartenzeichner tot aufgefunden hatte. Mit einem Mal bekam die Bedeutung derWahrsagerin mit dem fallenden Turm und dem Tod eine ganz neue Bedeutung. Ob es ihr vorherbestimmt war, den Fall Wiens herbeizuführen? »Bestimmt«,
erwiderte sie mit belegter Stimme. Sie musste sich zusammenreißen, um über ihr nächtliches Vorhaben zu schweigen. An der Tür zur Küche sagte sie: »Franzl, sieh zu, dass du Türen und Fenster gut verschlossen hältst, wenn ich weg bin, ja? Und lass nur Lucas und die anderen herein, hörst du?«
Der Ikonenmaler setzte sich auf. »Madelin? Hast du etwas in den Karten gesehen?«
»Ich weiß nicht, Franzl«, sagte sie ausweichend. Offenbar hatte sie sich irgendwie verraten. »Du weißt doch, dass ich das Schicksal nicht mehr lesen kann.«
»Aber du hast etwas gesehen. Auch ohne deine Gewissheit.«
Madelin hielt
Weitere Kostenlose Bücher