Die Schicksalsleserin
aus diesem Loch hinauskriechen und in die Kodrei Goldberg gehen. Sie würde einen Weg finden, mit Lucas darüber zu sprechen. Vielleicht kannte er einen Weg, Graf zu Hardegg und Eck von Reischach zu warnen, ohne dass das Leben ihrer Schwester gefährdet wurde. Graf Salm war die Seele der Verteidiger; er musste wissen, was zu tun war.
Mit diesem Entschluss schob Madelin sich vorsichtig auf der anderen Seite aus dem Versteck heraus. Sie spähte auf die Straße an der Mauer, die wieder still dalag. Also zog sie sich auf die Grasnabe. Oben angekommen wandte sie sich um und breitete das Gestrüpp wieder über das Loch, um es vor den Augen der Wachen zu verbergen. Als sie sich umwandte und aufstehen wollte, erstarrte sie. Sie blickte geradewegs in den Lauf einer Arkebuse mit brennender Lunte. Carlos, der Hispanier, starrte zu ihr herunter. »Wusste ich doch. Bruja «, grinste er. »Und eine Spionin. Was ein guter Fang. Auf die Knie.«
Madelin gehorchte stumm. Als Carlos Verstärkung bekam, wurden ihr die Hände und Füße zusammengebunden. Dann schleifte man sie durch die nächtlichen Gassen Wiens zur Schranne.
Bilder schossen der Wahrsagerin durch den Kopf. Ihre Begegnung mit dem weißhaarigen Spion im Haus des Henkers. Ihr Gang durch die nächtliche Vorstadt. Die durch die Luft fliegenden Spielkarten. Und der Offizier, der sie mit bekümmertem
Blick betrachtete. Hatte er sie laufenlassen, weil er nicht gewollt hatte, dass ihr etwas geschah? Oder wünschte sie sich das nur?
Als die Zellentür hinter ihr zugeworfen wurde, ließ Madelin sich auf den Boden fallen und krümmte sich unter der Decke zusammen, die dort lag. Sie besaß keine Kraft mehr. Sie spürte nichts, nicht einmal ihren zerschundenen Körper. Im Augenblick war ihr selbst egal, dass sie Wien in den Untergang getrieben hatte.
Der einzig bedeutsame Gedanke war, dass sie heute dem Mann in die Augen gesehen hatte, der ihr Vater war.
KAPITEL 19
A nna lag im Zelt auf den Kissen und lauschte auf die Geräusche der Nacht. Sie hörte weder Kanonen noch Arkebusen so wie vorhin. Es wurde nicht mehr gekämpft. Sie tastete nach ihrer Tochter, die ruhig neben ihr atmete. Auch Friedrich schlief noch dort, wo er sich hingelegt hatte. Der Bannerträger Christoph schien noch nicht wieder von seiner neuerlichen Einladung zum Sultan zurückgekehrt zu sein, denn von seinem Lager hinter dem aufgespannten Tuch hörte sie nichts. Warum also war sie aufgewacht?
Anna war durstig. Leise schlüpfte sie unter der Decke hervor und sorgte dafür, dass Elisabeth es weiterhin warm hatte. Das kleine Mädchen lag mit einem beinahe friedlichen Gesichtsausdruck in den Kissen, die Knöchel einer Hand halb in den Mund geschoben. Anna fühlte eine sorgenvolle Liebe zu der Tochter. Wieder war sie froh, dass dieser narbengesichtige Reiter sie nicht gekauft hatte. Er hatte angedroht, die Tochter den Flammen zu übergeben. Mehmed hingegen hatte sie in den letzten Tagen gut behandelt.
Die Mutter tastete sich zu dem niedrigen Tischlein, auf dem ein Krug mit Wasser stand, und trank. Dann griff sie zu einer Handvoll Trauben, um den üblen Geschmack der Nacht aus dem Mund zu vertreiben. Als ein Rascheln vom Zelteingang herüberdrang, dachte Anna zunächst, Christoph Zedlitz von Gersdorff würde zur Nachtruhe heimkehren. Sie zupfte ihr Hemd zurecht und griff sich das Tuch, das zwischen den Kissen lag, um wenigstens halbwegs bedeckt zu sein.
Die Hand, die sich über ihren Mund legte, ließ sie vor Schreck
erstarren, dann fasste eine zweite um ihren Hals. Sie wollte schreien, sich herausdrehen, wollte den Krug hinter sich schleudern, um den Angreifer abzuwehren. Die Finger an ihrer Kehle drückten bloß ein wenig zu, doch das reichte, um ihr die Luft abzuschnüren. Anna ließ den Krug fallen und versuchte, die Hand wegzuziehen. Dann flüsterte eine akzentreiche Stimme an ihrem Ohr: »Still, Weib, oder ich reiße dir die Gurgel aus …« Damit öffnete sich die Hand immerhin so weit, dass die Frau wieder atmen konnte. Sie rang um Luft.
Anna hatte die Stimme erkannt. Es war der Mann mit dem Narbengesicht, der Akindschi, der den kleinen Friedrich an der Waffe hatte ausbilden wollen, der Mann, der versucht hatte, sie zu kaufen. Der Mann, der nach ihrer Gefangennahme einer ihrer Schänder gewesen war und der geschworen hatte, ihr die Erniedrigung heimzuzahlen. Der Verkäufer hatte ihn Seyfeddin genannt.
Er zog sie unsanft in die Höhe. »Willst du, dass deine Kinder leben, bist du leise«, knurrte er
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