Die Schicksalsleserin
ihr ins Ohr.
Anna nickte schnell. Er wollte ihr etwas antun, nicht den Kindern. Sie hatte ihn beleidigt, Friedrich und Elisabeth hatten damit nichts zu tun. Wenn sie erst einmal draußen waren, würde er die beiden vielleicht in Ruhe lassen …
Tatsächlich zog Seyfeddin sie rückwärts aus dem Zelt. Trotzdem kam es Anna so vor, als verlöre sie in den paar Schritten, die sie tat, auch noch das Letzte, für das sie jemals gelebt hatte. Sie spürte eine Träne auf der Wange, als sie den beiden friedlich schlafenden Gestalten einen stummen Abschiedsgruß sandte und ihnen ein langes und frohes Leben wünschte. Im Herzen wusste sie, dass sie sich damit selbst belog, denn wenn die Kinder die nächsten Tage und Wochen überlebten, dann würden sie als Waisen in Kummer und Armut aufwachsen. Dann fiel die Zeltbahn vor ihnen zu und verbarg die Kinder vor Annas Blicken.
Verzweifelt sah sich die Mutter nach den Wachen um, die
eigentlich vor dem Zelt stehen sollten, das der Sultan für Christoph aufgestellt hatte. Keine von beiden war zu sehen. Und wo war Mehmed, der Offizier? Sie versuchte zu schreien und kämpfte erneut gegen den Griff Seyfeddins an, doch der Mann drückte ihren Hals wieder ein wenig zu und raubte ihr damit jeden Ton. Anna versuchte, die Finger zwischen ihren Hals und seine Hand zu schieben, doch sie zerkratzte mit den Nägeln nur ihre eigene Haut. Alles, was Seyfeddin jetzt noch tun musste, um sie zu töten, war zuzudrücken. Dann würden ihre Kinder morgen die Mutter tot vor dem Zelt finden.
Plötzlich ließ Seyfeddins Griff nach. Anna fiel um Luft ringend zu Boden und hielt sich eine Hand schützend an die schmerzende Kehle. Sie brauchte ein paar Augenblicke, um sich so weit zu erholen, dass sie sich auf dem kalten Boden herumdrehen konnte.
Sie sah zwei Männer, die im Mondlicht miteinander rangen. Die einzigen Geräusche, die zu ihr herüberdrangen, waren keuchende Atemzüge. Dann fiel einer von beiden zu Boden, der andere wandte sich wie ein Löwe im Sprung herum und stürzte sich auf ihn. Sie sah Christophs langes blondes Haar auf dem dunklen Gras schimmern und erkannte, dass Seyfeddin auf ihm saß und ihn würgte. Seyfeddin hatte keine andere Wahl, als den Bannerträger zu töten.
Anna machte den Mund auf und versuchte zu schreien, doch sie brachte bloß ein Greinen zustande. Immerhin war es laut genug, um Seyfeddin auf sie aufmerksam zu machen. Annas Herz schlug schneller.
Christoph nutzte die Ablenkung, um den Griff seines Gegners zu lösen und ihn von sich hinunterzurollen. Doch der Osmane war stärker und lag schließlich wieder oben. Er drosch mit der Faust auf den Bannerträger ein, um ihn schnell auszuschalten.
Wieder versuchte Anna zu schreien, und dieses Mal kam ein Wimmern heraus. Doch es war kläglich leise. Wenn sie niemand hörte, würde der Bannerträger sterben!
Seyfeddin hatte Christoph inzwischen halbbewusstlos geprügelt. Offenbar zufrieden mit seinem Werk, sprang er auf und rannte auf Anna zu. Er wollte sie am Schreien hindern, schoss es der Frau durch den Kopf. Sie wandte sich um und versuchte fortzukriechen. Noch hatte Seyfeddin die Gelegenheit, Christoph und sie zu töten, ohne dass jemand bezeugen konnte, dass er seine Finger im Spiel hatte. Sie musste die Wachen alarmieren, musste jemanden wecken, der Seyfeddin die Stirn bieten konnte! Doch als Anna ihren dritten Schrei versuchte, verstummte ihre Stimme mit einem trockenen Krächzen.
Dann war Seyfeddin herangekommen. Der Mann zog sie an den Armen hoch und grinste sie böse an. »Jetzt stirbst du, Weib!«
Der glockenhelle Schrei, der da erklang, war so laut, dass das halbe Lager ihn hören musste. Anna und Seyfeddin wandten die Köpfe zum Zelt. Im Eingang stand Friedrich, ihr kleiner Friedrich, und schrie in höchster Not. Anna lachte und weinte gleichzeitig vor Erleichterung.
Dann ging alles sehr schnell. Elisabeth fiel weinend in die Schreie ihres Bruders mit ein. Die Wachen, die eigentlich vor dem Zelt hatten stehen sollen, eilten im Laufschritt herbei. Seyfeddin ließ Anna mit einem Fluch los und lief um sein Leben. Die Mutter kam auf die Beine und stolperte zurück ins Zelt. Dort schloss sie ihre Kinder in die Arme. Anna bedeckte ihre Gesichter mit Küssen, mehr um sich selbst zu versichern, dass ihnen nichts geschehen war. Sie waren am Leben, alle drei, und Anna dankte Gott dafür.
Als sich die Kinder beruhigt hatten, ging sie zu Christoph hinaus. Sie sank an seiner Seite auf die Knie. »Ihr wart sehr tapfer«,
Weitere Kostenlose Bücher