Die Schicksalsleserin
dieser Mann wirklich mit ihrer Schwester gesprochen. Madelin konnte nur beten, dass es ihr und den Kindern auch gutging, denn sie konnte nichts für sie tun. Jetzt musste sie sich erst einmal um ihr eigenes Leben kümmern.
Madelin hielt das Kartenspiel hoch. »Hier hast du das verdammte
Spiel«, sagte sie. Dann drehte sie sich zu dem Soldaten um, warf den Stoß in die Luft und lief.
Sämtliche Karten flogen durch den Kapellenraum auf den Boten zu. Der sprang unwillkürlich hinterher, um sie einzufangen und aufzusammeln. Madelin duckte sich an ihm vorbei zur Tür. Der Soldat erkannte ihre List im letzten Augenblick und warf sich herum, doch sie rammte ihm die Schulter in die Seite. Dann war sie durch die Tür und aus der Kapelle heraus.
Sie rannte. Vorbei am Heiligengeistspital - sie hörte das Fluchen einer osmanischen Wache -, zurück zu der provisorischen Brücke und hinein in die Vorstadt vor dem Kärntner Tor. Hier zwang die Wahrsagerin sich dazu, keuchend hinter einer halbeingestürzten Mauer innezuhalten. Wenn sie kopflos durch die dunklen Straßen floh, würde sie gewiss ein Schütze von den Mauern für einen Feind halten und schießen. Also wartete sie, bis sich Atem und Furcht ein wenig beruhigt hatten. Sie lauschte, ob ihr die Soldaten des Offiziers gefolgt waren, doch sie hörte niemanden.
Endlich wagte sie, den Kopf hinter der Mauer hervorzuschieben. Sie kniff die Augen zusammen, um in der Dunkelheit besser sehen zu können. Alles um sie herum war ruhig. Madelin lief los. Doch kaum hatte sie sich von der Mauer gelöst, drang ein heller Schuss durch die Nacht und hinter ihr splitterte Stein. Man beschoss sie von der Burg aus!
Madelin eilte blind weiter, durch die Straßen der verbrannten Vorstadt. Sie versuchte, den Kopf in Deckung vor den Kugeln zu halten, die von den Mauern abgefeuert wurden. Inzwischen hörte sie Rufe, Schreie, und hinter ihr beantworteten die Osmanen die Provokation von den Mauern mit gleicher Münze.
Madelin ignorierte den Kugelhagel und hastete auf den frisch ausgehobenen Stadtgraben zu. An der Mauer regneten Steinsplitter von einschlagenden Kugeln herab. Sie duckte sich
und warf sich in die mehrere Schritt tiefe schwarze Grube des Stadtgrabens. Dabei riss sie die Arme hoch und rollte sich seitlich ab. Ihre Hüfte prallte gegen einen Stein, dann kam sie schneller als geahnt auf dem Boden auf.
Stöhnend rappelte sich Madelin auf und versuchte, sich zu orientieren. Das Tuch war fort, das Haar hing ihr von Gras und Erde verklebt über das Gesicht. Sie robbte vorwärts und suchte nach dem Schlupfloch zum Gang. War sie hier falsch, war sie doch noch gar nicht an der Burg vorbei? Dann, endlich, erkannte sie die dunkle Kerbe im Wall unter der Mauer und kroch darauf zu. Über ihr krachte noch immer das Feuer der Arkebusen.
Hastig zog Madelin sich in den Spalt hinein. Sie scherte sich nicht darum, dass sie sich den Unterarm an einem Ziegelstein schrammte. Sie schlüpfte in ihr altes Versteck, stopfte die Backsteine wieder in das Loch, damit die Türken von außen den geheimen Ausstieg nicht sehen konnten. Dann lauschte sie, ob ihr jemand gefolgt war. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, wenn ein Osmane ihr Versteck fand, sie konnte nur beten, dass der Schutz der Dunkelheit genug wäre. Sie hockte sich an die Wand, zog die Beine an den Körper und schlang die Arme darum. Dann schloss sie die Augen, um sich ganz auf die Geräusche zu konzentrieren.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort so gesessen hatte. Irgendwann wurde das Feuer der Arkebusen seltener und hörte schließlich ganz auf. Kälte und Erschöpfung krochen ihr in die Gliedmaßen und ließen sie zittern. Vielleicht war es auch die Erkenntnis, wie knapp sie gerade dem Tode entronnen war.
Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie an Anna und die beiden Kinder dachte - und die Spielkarten, die sie bei dem Offizier zurückgelassen hatte. Sie war in die Falle getappt und hatte das Spiel verloren. Nun würde Wien ihrer Dummheit wegen in die Hand der Türken fallen.
Eine Stunde mochte vergangen sein, vielleicht waren es auch zwei. Dann war ihr so kalt, dass sie sich aufraffte, um nicht zu erfrieren. Einen kurzen Augenblick zögerte Madelin. Vielleicht sollte sie sich einfach wieder hinlegen und die Kälte ihr Werk vollenden lassen. Dann würde Wien niemals erfahren, wer es verraten hatte. Und sie würde die Konsequenzen ihres Handelns nicht mit eigenen Augen sehen müssen.
Dann schüttelte sie entschieden den Kopf. Sie würde
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