Die Schicksalsleserin
ungefähr nachfühlen, wie es ihr ging, denn sein Freund Heinrich war ja auch in diesem Zug gewesen. Ob Graf zu Hardegg davon wusste? Lucas schreckte noch immer davor zurück, dem Mann zu vertrauen. Er war der einzige Mensch, mit dem sie die Anfertigung des Trionfi-Spieles in Verbindung bringen konnten. Möglicherweise war er der Verräter, den sie suchten.
Lucas musterte die Fahrende. Sie sah elend aus. Rock und Hemd waren mit getrocknetem Schlamm verklebt. Die Haare hingen ihr ungebändigt und verfilzt ins Gesicht. Das süße, herzförmige Gesicht wirkte verschlossen. Sein Blick fiel auf die Tasche
an ihrer Seite - die Gürteltasche, in der sie das Trionfi-Spiel aufbewahrte. Lucas runzelte die Stirn. »Deine Tasche ist offen. Hast du das Spiel verloren?«
Madelin tastete nach der Tasche und schlang das Lederband wieder um den Knebelknopf. Sie vermied es, seinem Blick zu begegnen. »Nein«, erwiderte sie. »Franziskus hat es.«
Erleichtert hockte sich Lucas vor die Wahrsagerin auf den Boden. »Was machen wir nun?«, fragte er müde. »Pernfuß baut uns beiden vermutlich schon ein Schafott.«
»Hol mich hier raus«, bat Madelin. »Sag ihm, dass ich bloß nach meiner Schwester schauen gegangen bin. Er kann den Gang unter der Stadtmauer verschließen, so dass keine Gefahr von außen droht.«
Lucas ergriff ihre Hände und wärmte sie mit seinen. Dann drückte er einen Kuss darauf. »Ich werde ein gutes Wort für dich einlegen«, murmelte er. »Aber ich weiß nicht genau, ob das etwas bringt - ich bin nicht gerade Pernfußens Liebling.«
»Danke schön«, flüsterte Madelin. Er wollte sich vorbeugen und sie in den Arm nehmen, doch sie wich ihm aus. Abrupt ließ er ihre Hand los.
»Alles in Ordnung mit dir?«
»Ja.«
Was war bloß mit ihr los? Ihr Benehmen erinnerte sie an sein eigenes, kurz nachdem Ansässer gestorben war. »Ist … ist dort draußen etwas geschehen?«
»Nein, wirklich nicht«, sagte sie. »Ich mache mir bloß Sorgen um Anna. Ich … ich will meiner Mutter einen Brief ins Haus reichen, damit sie Bescheid weiß.«
»Ich werde zusehen, ob Pernfuß mit sich reden lässt«, erwiderte Lucas. Er erhob sich und ließ die Fahrende schweren Herzens in der Einsamkeit ihrer Zelle zurück. Vielleicht brauchte sie einfach ein wenig Zeit.
»Ich soll was tun?«, fragte Pernfuß. »Sie freilassen? Das kommt nicht infrage!«
»Sie ist bloß hinausgegangen, weil sie nach ihrer Schwester sehen wollte, Meister Pernfuß«, erläuterte Lucas. »Sie ist gewiss keine Spionin!«
»Und das soll ich glauben, weil du selbst so ein Ausbund an Treue und Zuverlässigkeit bist?«, spottete der Stadtrichter.
»Wenn ich Euch als Leumund nicht reiche, fragt doch Elisabeth von Schaunburg, ihre Mutter. Oder Graf zu Hardegg.« Diese Namen verfehlten ihre Wirkung bei Pernfuß nicht. »Ich könnte zumindest die Mutter holen - sie wohnt ja schräg gegenüber.«
Der Stadtrichter hob die Hand. »Nein, nicht nötig.« Die Muskulatur an seinem Kiefer war angespannt. »In Ordnung, Steinkober. Ich lasse sie gehen. Wenn sich aber doch herausstellt, dass sie für die Osmanen spioniert hat, dann hängst du neben ihr am Strick, ist das klar?« Er starrte Lucas an. »Dann hat unser beider Mäusetanz ein Ende, verstanden?«
»Verstanden, danke.«
Damit warf Pernfuß ihm den Schlüssel zu. »Schaff sie mir aus den Augen.«
Frohen Mutes entließ Lucas Madelin aus dem Kerker. »Madelin, hörst du, was ich sage? Ich habe dir erzählt, dass mein Hals nun mit in der Schlinge steckt.«
»Ja«, erwiderte sie abwesend. »Keine Angst, wirst’ sicher nicht am Galgen des Stadtrichters enden.« Sie wandte sich ihm zu, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn sanft auf die Lippen. »Lucas, falls die Türken die Mauern überrennen - lauf zum Haus meiner Mutter dort drüben und bitte in meinem Namen um Einlass, ja?«
»Aber wir haben sie bislang draußen halten können! Vielleicht ziehen sie wegen der Kälte irgendwann freiwillig ab«,
entgegnete Lucas verwirrt. »Du tust ja so, als hätten wir schon verloren.«
»Denk einfach daran, ja?« Sie drückte seine Hand und eilte davon. Lucas sah ihr verwirrt nach. Was mochte dort draußen nur geschehen sein?
Der Mittag nahte, als Lucas mit Rudolph gen Süden eilte. Pernfuß hatte viele Männer in den Süden der Stadt versetzen lassen, um die Reihen der Bauhelfer zu ergänzen. In den letzten Tagen arbeitete Lucas oft mit ihm zusammen, weil Wilhelm und Georg Hofer mit den Bergknappen noch
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