Die Schicksalsleserin
ungerechten Zurückweisung aufs Neue. Sie versuchte, der Schwester alles noch einmal zu erklären. »Eigentlich ist Friedrich ins Haus der Mutter gekommen, um eine ihrer Töchter zu ehelichen, und es ziemt sich, um die Hand der Älteren zuerst zu bitten. Und dann kamst du herein …« Sie bremste sich, bevor sie Dinge sagte, die Anna beleidigten. Wie etwa, dass sie Friedrich ihrerseits schöne Augen gemacht hatte, kaum dass sie seiner ansichtig geworden war.
Trotzdem verstand Anna sie nur zu gut. »Ah, jetzt habe ich dir also den Mann weggenommen, ja?«, gab sie zornig zurück. »Und vermutlich bin ich auch noch schuld daran, dass du weggelaufen bist, wie?«
Madelin erinnerte sich an den Streit am Tage der Hochzeit. Sie hatten sich gegenseitig angeschrieen, und schließlich hatte die Mutter Madelin verboten, in die Kirche und auf das Fest zu kommen. Sie war so wütend gewesen. In ihrer Ohnmacht hatte sie ihre Sachen gepackt und war für immer fortgegangen. Doch jetzt biss sie sich auf die Zunge und schwieg. Sie war wirklich nicht hergekommen, um sich zu streiten.
Madelin blickte auf die Werkbänke, um sich abzulenken. Dann runzelte sie die Stirn. Sie hatte sie im ersten Moment für sauber und aufgeräumt gehalten, doch jetzt erkannte sie die feine Staubschicht auf Holz und Leder. »Wo ist Friedrich?«
Jetzt war es Anna, die keine Worte fand. Madelin wurde kalt. Anna hatte »ich« gesagt, als sie vom Haus gesprochen hatte. Der Arbeitsplatz war verwaist. »Anna«, sie schluckte hart, als sie ihren Verdacht aussprach, »ist Friedrich tot?«
Die Schwester nickte nur.
Madelin wusste nicht, wie sie reagieren sollte, was sie fühlen durfte. Sollte sie die Schwester in den Arm nehmen, die kaum mehr als eine Fremde für sie war? Sie rührte sich nicht. »Und die Kinder?«
»Im Keller.«
Madelin schwieg ein paar Augenblicke. »Es … es tut mir leid.«
Die Schwester nickte bloß.
»Wann ist es passiert?«
»Im Frühjahr. Das Fieber.«
»Vor kaum einem halben Jahr?« Kein Wunder, dass der Schmerz noch so frisch war! Madelin mied den Blick der Schwester. »Was sagt die Mutter dazu?«
»Mutter ist Mutter«, sagte Anna. »Sie hat mir ein bisschen Geld gegeben und gesagt, ich möge mir einen neuen Ehemann suchen.«
»Und das willst du nicht.«
»Einen Gesellen, der wegen der ausgestatteten Werkstatt in mein Haus und mein Bett einzieht und dem meine Kinder nur ein lästiges Übel sind? Nein, mir geht es besser, wie es ist«, presste die Schwester heraus.
»Schau, Anna, ich bin nicht hergekommen, um mich mit dir zu streiten. Ich …«
»Warum dann?«
»Was?«
»Warum bist du dann hergekommen, Madelin?«
Die Fahrende zögerte, doch nun musste es heraus. »Ein Freund von mir, Franziskus … Er ist ein … ein Mönch, und er ist krank.«
»Oh. Was hat er?«
»Ich weiß nicht genau. Darum sind wir hier. Wir wollen ihn zur Universität bringen. Zu einem Physicus. Einem Doktor der Medizin.«
»Ich … ich kann dir einen nennen, wenn du willst. Er war ein Freund von Friedrich. Vielleicht lässt er dir vom Geld etwas nach.«
Madelin schwieg und wurde rot. Sie sah zu Boden.
»Ah«, sagte Anna, »darum bist du hier. Es geht um’s Geld, wie damals.«
»Anna«, bat Madelin eindringlich, »ich habe wirklich kein Geld! Franziskus wird vielleicht sterben, wenn wir nicht herausfinden, was er hat. Du … du bekommst es wieder!«
Anna lächelte traurig. »Ja, woher denn? Wie willst’ mir den Lohn eines studierten Mediziners zurückzahlen, Madelin? Hast’ überhaupt eine Ahnung, was das kostet? Nein. Ich kann dir nichts geben. Die Osmanen stehen vor der Tür, und ich muss meine Familie versorgen.«
Ein neuerlicher Stich fuhr Madelin ins Herz. Anna sorgte sich um ihre Familie - sie selbst zählte nicht dazu. »Anna!«, beschwor sie die Schwester trotzdem. »Franziskus ist mir einer der liebsten Menschen auf der Welt. Er ist gütig und intelligent, gebildet. Er ist in den letzten Jahren meine Familie gewesen! Ich muss ihm helfen.«
»Wie hätte ich das verstehen können - ich bin ja nur verwandt
mit dir.« Annas Stimme klang jetzt bitter. »Ich habe schon gedacht, du wärst heimgekommen.«
Madelin schüttelte den Kopf. »Wenn Franziskus gesund wird, werde ich nicht bleiben.«
»Und was, wenn nicht? Läufst’ dann auch vor ihm weg?« Annas Blick war hart. »Lass den Mann sterben und geh. Am besten, bevor er tot ist, dann belastest du dein Gewissen nicht so sehr damit, sondern kannst dir einreden, dass er gesund
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