Die Schicksalsleserin
schmerzlich bewusst, dass sie keine anständige Frau mehr war. Sie war eine Fahrende, eine Unehrliche. Eigentlich musste sie sich nicht darum scheren, wie eine Bürgersfrau das Haar und die Kleidung zu tragen hatte.
Üblicherweise genoss sie diese Freiheiten und lachte über die Blicke von Bürgersleuten, die bei ihrem Anblick die Nase rümpften. Jetzt war sie in der Gasse angelangt, in der das Haus von Annas Mann stand, und sie fragte sich, was der wohl zu ihrem Äußeren sagen würde. Natürlich war das albern - nach einer mehrtägigen Flucht vor den osmanischen Reitern durch Regen und Schlamm hatte sie allen Grund, nicht ordentlich auszusehen. Trotzdem wollte sie einen guten Eindruck machen.
Madelin zählte die Gebäude ab und versuchte, sich das Haus Ebenrieders vor Augen zu führen, das er für seine junge Braut hatte verschönern lassen. Das Fachwerk war damals neu verputzt und in hellem Grün gestrichen worden. Das Dach hatte der Goldschmied mit einer frischen Lage Strohbündel decken lassen - auch wenn er versprochen hatte, es in ein paar Jahren gegen teure Ziegel austauschen zu lassen, deren rote Farbe in Wien für Wohlstand sprach.
Schließlich stand sie vor dem Haus, in das Anna damals eingezogen war. Es duckte sich hinter das graue Heiligengeistspital auf der Wie den und wirkte gealtert, aber nicht ungepflegt. Auf dem Dach lagen tatsächlich rote Ziegel. Ansonsten bot es
sich noch genauso dem Auge des Betrachters, wie Madelin es in Erinnerung behalten hatte - nur kleiner. Sie sammelte ihren Mut und klopfte an die Tür.
Nichts regte sich. Sie klopfte noch einmal, lauter, und lauschte auf Geräusche aus dem Innern. Dann trat sie ein paar Schritte zurück auf die Straße und blickte erst zum Regen verhangenen Himmel, dann wieder auf das Fachwerkhaus. An einer Seite des Gebäudes war ein schmaler vernagelter Durchlass. Dazwischen hing ein Abort, von dem es unerträglich stank.
»Macht euch davon! Wir gehen nicht weg!«, erklang eine Frauenstimme aus dem Innern des Hauses.
»Ich … ich will die Hausherrin sprechen!«, stammelte Madelin. War das Haus inzwischen an jemand anderen verkauft worden?
Auf der anderen Seite der Straße klapperte oben ein Fenster. Madelin drehte sich um und sah hinüber. Eine Frau blickte missbilligend herunter. In diesem Augenblick knarrte die Tür hinter ihr in den Angeln. »Was willst’ denn?«, fragte dieselbe Frauenstimme. Madelin fuhr herum.
Aus der mit Schnitzwerk verzierten Tür, die bloß einen Spalt breit offen stand, schaute Anna Ebenrieder. Sie musste wohl mit unangenehmerem Besuch gerechnet haben, denn als sie die Wahrsagerin sah, öffnete sie die Tür etwas weiter.
Madelin erkannte in der Frau die nur ein Jahr jüngere Schwester wieder, die sie einst zurückgelassen hatte. Doch wie hatte sie sich verändert! Die ehemals mädchenhaft rundlichen Gesichtszüge wirkten hart, die Wangen waren beinahe eingefallen. Die Augen von der Farbe eines düsteren Herbsthimmels blickten nicht mehr wach und lebhaft, sondern müde und sorgenvoll. Der dunkelbraune Rock und das Mieder hatten einen schlichten Schnitt; auch sie hatte sich einen Koller mit einer feinen Borte umgebunden, obwohl ihr Hemd keinerlei Ausschnitt
bot. Dazu trug sie einen passenden Gürtel. Das Haar war sauber unter eine flache Kappe gesteckt, die auf ihrem Scheitel ruhte; ein Netz bändigte die mittelblonden Locken im Nacken. Die junge Frau hielt sich aufrecht und das Kinn erhoben.
Während Madelin Anna wortlos musterte, tat die umgekehrt dasselbe. Die junge Ebenrieder runzelte ihre Stirn und öffnete schon den Mund, vermutlich, um die Fremde zu verscheuchen. Dann verengten sich Annas Augen zu Schlitzen, wie eine Katze, die ihre Beute mustert. Schließlich riss sie ihre Brauen in stummem Erstaunen hoch. »Du?«
Madelin nickte wortlos. Sie hatte sich eine Rede für diesen Augenblick zurechtgelegt, geplant, wie sie Anna um das Geld bitten wollte. Jetzt fühlte sich dieser Augenblick ganz anders an, als sie ihn sich ausgemalt hatte. Die Silben blieben Madelin im Hals stecken und ihr Kopf war ganz leer. Es war Anna, die die Situation löste. Sie öffnete die Tür ganz und trat beiseite, um ihr Einlass zu gewähren. Madelin strich ihre bloßen Füße an der Türschwelle ab, so gut es eben ging, und trat ein. Die Tür wurde hinter ihr verriegelt.
Im Hausinnern war es dunkel. Madelin stand in einer Goldschmiedewerkstatt, in der zwei hölzerne Arbeitsplatten mit rundem Ausschnitt und Ledertüchern zum Auffangen
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