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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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geworden ist.«
    Madelin fühlte den Einschlag jedes Wortes, als sei es ein Pfeil, abgefeuert, um ihren Stolz zu kränken. Mehr noch - Anna wollte ihr absichtlich wehtun, und es gelang ihr. Madelin ballte die Hände zu Fäusten und ging zur Tür. Sie konnte nichts mehr erwidern; wenn sie jetzt den Mund öffnete, sie wüsste nicht, was herausfahren würde.
    »Wo das Stadttor ist, weißt du ja«, sagte Anna böse. »Geh nicht nach Osten. Von dort kommen die Osmanen.«
    Madelin öffnete hastig den Riegel und zog die Tür auf. Sie wollte nichts mehr hören, doch die Schwester redete weiter. »Aber vielleicht lassen sie dich ja leben und stecken dich in einen Harem. Immerhin bist du ja eine von ihnen .«
    Endlich klappte die Tür hinter Madelin zu. Sie stolperte auf der Straße und fing sich an der Hauswand. Ihre Wangen waren feucht, und sie schmeckte Salz auf den Lippen. Doch sie fühlte nichts. Ihr Inneres war taub vor Wut. Sie hätte niemals nach Wien kommen sollen. Sie hätte die Schwester nicht aufsuchen sollen. Sie hatte gewusst, dass die Vergangenheit besser begraben bleiben würde. Doch dafür war es nun zu spät.
    Jetzt waren die alten Wunden aufgerissen.
     
    Madelin lief wie betäubt die sandige Straße der Vorstadt entlang. Die Sonne war bereits untergegangen und ließ das Bollwerk
um Sankt Anton dunkel zurück. Die zugenagelten Türen, dunklen Fenster und kalten Kamine wirkten abweisend, ja feindselig.
    Die junge Frau betrat wieder die Kärntner Vorstadt. Sie stapfte auf das Kärntner Tor zu, doch auch hier drängten die Menschen, die von den Kanonenschüssen offenbar verängstigt worden waren, in die Innenstadt.
    Tränen blendeten Madelins Sicht. Sie rempelte hier und da jemanden an, lief beinahe in ein Fuhrwerk hinein, das im Schlamm stecken geblieben war, und hastete weiter.
    Vorbei an der Burg Wiens - vier Türme ragten hoch über der fast zwanzig Fuß hohen Stadtmauer in den dunklen Himmel und erweckten so den Eindruck eines alten Kastells - näherte sie sich dem Burgtor. Sie hatte gehofft, dass die Situation hier besser wäre, doch auch an diesem Fleck herrschte ein großes Durcheinander. Trotz der späten Stunde drängten über hundert Menschen zum Tor herein. Vermutlich erhofften sie sich von Wien einen sicheren Zufluchtsort, um sich auszuruhen. Wenn Madelin den Worten ihrer Schwester glauben durfte, müssten sie alle die Stadt wieder verlassen - auch die Fahrenden. Sie mochte gar nicht daran denken, was das für Franziskus bedeuten würde.
    Madelin zögerte am Tor. Sie hatte nicht die Geduld, sich in das Gedränge zu stürzen und entschloss sich daher, einen anderen Weg zu nehmen, um in die Stadtbefestigung hineinzugelangen. Madelin ging an der Menge vorbei. Einige dreckige und müde Gesichter starrten ihr nach. Männer stritten, Frauen keiften, Kinder weinten vor Erschöpfung. Madelin konnte ihnen nachfühlen.
    ›Wo das Stadttor ist, weißt du ja.‹ Dieser grausame Satz der Schwester wollte sich nicht aus Madelins Gedanken vertreiben lassen. Er suchte sie heim, als säße ihr der Teufel auf der
Schulter und flüstere ihr den Satz immer und immer wieder ins Ohr.
    Die junge Frau ging trotz der Dunkelheit zum Rand des Stadtgrabens. An der frisch aufgeworfenen Böschung raffte sie wieder ihre Röcke und kletterte vorsichtig hinab. Unten angekommen suchte sie unterhalb der Stadtmauer nach einem kleinen Einschnitt in den Wall. Bald hatte sie ihn gefunden. Hier zweigte das alte Bett eines Baches ab, der einmal von Sankt Ulrich kommend unter der Stadtmauer hindurch und in die Stadt geflossen sein musste. Selbst an ihrer weitesten Stelle war die zugewucherte Kerbe kaum breiter als Madelins Schultern. Als sie sich unbeobachtet wähnte, schob sie sich durch das alte Bachbett bis zum Fuß der Stadtmauer, an dem Ziegelsteine das trockene Bachbett versiegelten.
    Madelin hob den nackten Fuß und trat gegen die Mauer. Der Tritt brachte ihr nur Schmerzen ein. Sie kühlte die Ferse einen Augenblick lang am kaltfeuchten Boden, dann trat sie noch einmal gegen die Steine. Die Mauer hielt. Doch Madelin gab nicht auf. Nach drei weiteren Tritten hatte sie den seit Jahren getrockneten Mist in den Fugen der Vermauerung des alten Grabens aufgebrochen. Die Steine wackelten und gaben schließlich nach.
    Mit einer Hand sammelte Madelin die Backsteine aus dem Loch und stapelte sie seitlich auf. Dann raffte sie das Kleid, stopfte den Saum in ihren Gürtel und schob sich auf den Knien in den dunklen Gang hinein. Die Mauer war

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