Die Schicksalsleserin
Kärntner Vorstadt hinaus und ging auf der Steinern Brücke über den Wienfluss auf die Vorstadt bei Sankt Anton zu, die von einem eigenen Befestigungszaun umgeben war. Auch ihn hatte man sorgfältig ausgebessert, denn manche der Palisadenbalken sahen nagelneu aus. Offenbar wollte man die Stadt an den Zäunen der Vorstädte verteidigen.
In diesem Bollwerk bei Sankt Anton waren Menschen vor zwei Häusern gerade dabei, hektisch Leiterwagen für die Flucht
zu beladen. Sie runzelte die Stirn und wandte sich an eine Magd, die gerade mit einem Knecht eine Kleidertruhe auf den Karren hievte. Vielleicht könnte die ihr erklären, was hier vorging. »Warum sind denn alle weg? Sind denn die Vorstädte nicht sicher?«
»Alle müssen raus, heißt’s«, sagte die Angesprochene, eine feiste alte Frau. »Wir sind mit den Eppers dort die Letzten, glaub ich.«
»Aber warum denn? Die Zäune und Wälle sind doch offenbar gerade wehrhaft gemacht worden!«
Die Magd zuckte nur mit den Schultern. »Der Stadtrichter hat sie ausbessern lassen. Graf Salm gefällt’s offenbar nicht. Aber ich muss jetzt weiterpacken!«, sagte sie und verschwand wieder ins Hausinnere. Madelin beschleunigte unwillkürlich ihre Schritte. Man räumte die Vorstädte! Was, wenn die Schwester und ihr Mann längst fort waren?
Stirnrunzelnd dachte sie an die bevorstehende Begegnung mit dem Goldschmied Ebenrieder. Sie erinnerte sich, wie er damals in das Haus ihrer Mutter gekommen war: Mitte dreißig, unbeholfen, die Stirn gefurcht von Sorgenlinien. Sie war ein bisschen aufgeregt gewesen, denn Ludo, der neue welsche Knecht, hatte ihr damals berichtet, es würde ein Brautwerber ins Haus kommen, der sich mit den von Schaunburgs verbinden wolle, und sei es über Bastardkinder. Die Tradition besagte, dass um die Hand der ältesten Tochter angehalten wurde, und das war Madelin.
Eigentlich hatte ihr damals die Aussicht, einen Fremden heiraten zu müssen, gar nicht gefallen. Als Friedrich Ebenrieder dann aber vor ihr gestanden hatte, hatte sie sich dabei ertappt, wie sie unter seinen Blicken errötet war. Auch er hatte damals Gefallen an ihr gefunden - zumindest, bis ihre Schwester Anna die Kammer betreten hatte. Schlanker, blond und mit hellen,
klaren Augen, hatte sie Ebenrieder zu dem erstaunten Ausruf gebracht: »Tag und Nacht leben gemeinsam unter Eurem Hause, Frau von Schaunburg! Die Nacht weiß zu bezaubern, doch der Tag überstrahlt sie doch mit seinem hellen Schein.«
In jenem Augenblick war Madelin bewusstgeworden, dass nicht sie den wohlhabenden Goldschmied ehelichen würde. Sie hatte geflucht, gezetert und später der Mutter vorgeworfen, Anna an Ebenrieder verkauft zu haben, der sich von der Bastardtochter des Grafen zu Hardegg, dem ewigen Geliebten ihrer Mutter, sicher bloß einen gewissen Einfluss erhofft hätte. Die wahren Gründe für ihren Zorn hatte sie mit niemandem geteilt. Die Worte, die an dem Tag, an dem Ebenrieder die damals dreizehnjährige Anna in sein Haus geführt hatte, gewechselt worden waren, hatten den Graben zwischen Madelin auf der einen und der Mutter und Schwester auf der anderen Seite so vertieft, dass er zu einem unüberwindbaren Hindernis geworden war. Deshalb war Madelin damals tief getroffen und wütend aus Wien fortgelaufen und seither nie zurückgekehrt.
Auf dem steinernen Pflaster der Straße ließ die junge Frau ihre Röcke wieder los, denn wenn sie mit den Füßen nicht tief einsank, dann saßen die Säume gerade so lang, dass sie beim Gehen nicht dreckig wurden. Damit waren sie so kurz, dass eine anständige Bürgersfrau sich zu Tode schämen würde, wenn sie damit auf die Straße müsste.
Unruhig kratzte Madelin einen Flecken von dem rotbraunen Rundrock und sortierte die Schnürung am Mieder. Dann zupfte sie das Hemd zwischen den Lücken des dreiteiligen, mit Nestelbändern zusammengehaltenen Ärmels heraus, damit es schön plusterte. Sie wurde sich des tiefen und offenen Ausschnitts bewusst und war froh, den Koller darüberziehen zu können. Dieser lose Kragen, mit perlfarbenen Fäden bestickt
und ihr ganzer Stolz, bedeckte bei Bedarf Ausschnitt und Schultern. Madelin trug das dunkelbraune Haar gerne offen zur Schau, denn es war im Sommer so schön von der Sonne aufgehellt. Sie hatte es mit ihrem roten Tuch so hochgebunden, dass es ihr nicht im Weg war und doch offen in einem Schwall von ihrem Hinterkopf über den Rücken floss.
Hier, in ihrer alten Heimat, wurde Madelin sich seit langem zum ersten Mal wieder
Weitere Kostenlose Bücher