Die Schicksalsleserin
Dazu gehörten Kniestrümpfe und plustrige Oberärmel.
Manche der Männer standen gelangweilt an die hellen Steinfassaden gelehnt, andere ruhten mit dem Kopf auf ihrem Gepäck, wieder andere saßen beieinander und spielten im Licht der Lagerfeuer Würfel- oder Kartenspiele. Rufe und Streitereien gellten über den Platz. Durch das Tor drängten weiter die Flüchtlinge und suchten sich in der für sie fremden Stadt ihren Weg. Wie sollte Madelin hier ihre Freunde finden?
Der Gedanke an Franziskus wog schwer auf ihrem Herzen. Welche Worte sollte sie wählen, um ihm mitzuteilen, dass sie keinen Physicus würden bezahlen können? Dass sie alle die Reise nach Wien umsonst gemacht hatten? Madelin suchte sich einen Weg über den Platz, hinüber zur Kirche.
»Heda, Mädel«, rief da ein Söldner. »Willst du dich nicht zu mir setzen und ein wenig mit mir feiern? Wir haben bestimmt viel Spaß zusammen!«
Der Mann neben ihm musterte Madelin ebenfalls. »Die? Die nimmt doch Geld. Eine Bürgerin ist sie zumindest nicht.«
»Die sieht eher aus, als wäre sie schon die Vorhut der Osmanen!«, knurrte ein Dritter.
Madelin senkte den Kopf und beschleunigte ihren Schritt. Das war nicht das erste Mal, dass man sie für eine Landsknechtshure hielt, und das machte ihr auch nichts aus. Doch
der Verdacht, dass sie eine Spionin sei, konnte sich als gefährlich erweisen. Sie hätte den Platz umgehen sollen. Jetzt blieb ihr nur der Weg durch die Menge.
Bewegung kam in die Menschen um sie herum und Madelin sah auf. Zwei Reiter, einer ein sicher über siebzig Jahre zählender Greis, der andere etwa halb so alt, trabten von Fackelträgern flankiert mit einer zwanzigköpfigen Gefolgschaft aus der Burg. Die Leute machten dem Zug ehrerbietig Platz; manche zogen gar die Mützen vom Kopf. Auch Madelin trat beiseite, als die Reiter passierten.
Der Alte saß mit gebeugten Schultern auf dem Pferd. Seine Züge wirkten im Halblicht der Fackeln hart und misstrauisch. Er war mit einem schlichten Kürass gerüstet, darunter trug er ein dunkles Wams mit Goldfäden. Auf dem Kopf saß eine üppige Mütze mit blauen Federn. Die Kleidung wirkte wie die eines jungen Mannes.
Der zweite Reiter hatte ein kantiges Gesicht mit erstaunlich sanften Augen. Halblanges Haar und eine Narbe auf der Wange fand man bei vielen Landsknechten, das zerhauene Streifenwams mit goldenen Verzierungen konnte sich aber sicher nicht jeder leisten. Täuschte sich Madelin im flackernden Licht oder fehlten ihm an der Linken, mit der er die Zügel hielt, zwei Finger?
»Wer ist das?«, fragte Madelin einen stupsnasigen Burschen, der neben ihr in der Menge stand und gaffte.
»Das ist Niklas Graf Salm«, erwiderte der Junge. »Der Graf ist der Feldhauptmann von Wien - er hat den Oberbefehl.«
»Und der andere?«, fragte Madelin.
»Eck von Reischach. Er ist Hauptmann der Landsknechte hier in Wien - und davon hat es wirklich viele. Manche sagen, es sind dreitausend Mann, allein unter seinem Kommando!«
»Klingt so, als wäre er beliebt«, erkundigte sich Madelin.
»Er versteht uns halt«, sagte der Bursche. »Er weiß, was die Leute brauchen, um zu überleben - die, die ihr Heim verteidigen. Graf zu Hardegg ist grün vor Neid, weil von Reischach so beliebt ist.«
»Und dieser Graf Salm - der versteht auch sein Handwerk?«, fragte Madelin.
»Du kennst ihn nicht?« Der Bursche sah sie erstaunt an. »Der alte Haudegen ist der Beste! Der hat vor Pavia König Franz von Frankreich gefangen genommen.« Seine Stimme überschlug sich vor Bewunderung beinahe. »Und die Bauern in Tirol hat er auch niedergeschlagen.«
Dieses Vertrauen in den Grafen Salm ließ Annas Worte in einem neuen Licht erscheinen. Er hatte die Stadt niederbrennen und aufgeben wollen. Wenn er so viel von seinem Handwerk verstand - war man hier dann wirklich nicht sicher?
»Bist du bei den Flüchtlingen?«, fragte der Bursche nun.
»Gewissermaßen, ja.«
»Das heißt, du ziehst morgen mit dem Zug nach Krems?«
»Nach Krems?«, fragte Madelin. »Nein. Was ist das für ein Zug?«
»Die Flüchtlinge sollen morgen vor dem Mittag alle weg. Graf Salm gibt dem Zug Reiter zur Bewachung mit, sagen die Leute. Damit ihnen nichts passiert.«
»Und du? Warum bist du noch hier? Solltest du nicht mit deinen Eltern auch fliehen?«
»Ich habe keine«, erwiderte er schlicht. »Und ich geh nicht weg. Ich weiß, wie man in Wien überlebt.«
»Oh«, erwiderte sie. »Wie ist dein Name?«
»Wolfram.«
Der Reiterzug hatte sie passiert
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