Die Schicksalsleserin
hier nicht so tief wie an manch anderer Stelle. Das bedeutete aber immer noch, dass die Wahrsagerin beinahe sieben Fuß weit finsteren Ganges vor sich sah. Früher, als Kind, hatte sie diesen Ort geliebt. Er war trotz des muffigen Geruchs ihr heimliches Zuhause gewesen, in dem niemand Meryem von Schaunburg finden konnte.
In der Finsternis der vertrauten Umgebung fiel die Ungeduld von Madelin ab und die Erschöpfung holte sie ein. Tränen liefen ihr über die Wangen. Anna stand ihr vor Augen, von Trauer und Furcht gebeutelt. ›Immerhin bist du ja eine von ihnen‹, hörte sie die Schwester sagen.
Madelins Gedanken wanderten zu dem Bild an der Wand, das Anna und Friedrich Ebenrieder zu besseren Zeiten darstellte. Würde ein Gemahl, der eine Frau nur der Verbindungen wegen in sein Haus führte, ein solches Bild anfertigen lassen? Sie biss sich auf die Lippen, denn sie kannte die Antwort. Das Bild war ein Schrein, ein Ausdruck seiner Liebe und Verehrung. Anna hatte ihr den Mann nicht weggeschnappt, und er hatte sie nicht ihrer blauen Augen wegen geheiratet. Friedrich Ebenrieder hatte sich in Anna verliebt, und sie sich in ihn. Jetzt war er tot. Und Madelins Eifersucht kam ihr im Angesicht von Annas Trauer plötzlich kindisch vor.
Sie hatte Friedrich kaum gekannt. Trotzdem empfand sie im Angesicht seines Todes Mitleid und Bedauern. Der Goldschmied hatte für eine Familie jenseits ihrer eigenen gestanden. Sie erinnerte sich genau an den Tag von Annas Eheschließung. Sie hatte die Schwester bereits im Paradies gewähnt - ein wohlhabender Gemahl, ein schönes Haus, alle Freiheiten der Welt.
Madelin fühlte noch die bleierne Furcht, die sie damals empfunden hatte, für immer die verschmähte Tochter im Hause der Mutter bleiben zu müssen. In diesem Strudel der Gefühle war sie fortgegangen. Jetzt kam sie nach Hause und stellte fest, dass Anna Leid erfahren hatte und in ihrem Schmerz ganz allein geblieben war.
Madelin erkannte, dass es ihr in dem Streit niemals um den Mann gegangen war, und schluchzte laut auf. Hatte sie wirklich geglaubt, dass Sorgen und Enttäuschungen an der Schwester
vorbeiziehen würden? Sie hatte Anna schlimme Vorwürfe gemacht, obwohl sie doch eigentlich nur Angst davor gehabt hatte, dass sie zurückbleiben und niemals frei sein würde. Wie naiv sie gewesen war! Und anstatt der Schwester nun endlich in ihrer Trauer beizustehen, hatten sie sich wieder über diese kleinlichen Dinge gestritten. An die Tatsache, dass sie damit auch ihre Chance auf Unterstützung für einen Physicus für Franziskus verspielt hatte, mochte sie gar nicht denken. Wie sollte sie das Geld jetzt aufbringen?
Der Gedanke an Franziskus trieb Madelin voran. Sie kroch durch den Gang und suchte den Ausgang auf der Innenstadtseite. Früher hatte sie ihn stets sorgfältig gepflegt und mit Strauchwerk verborgen, doch jetzt verstopften ihn der Mist und Abfall von mehreren Jahren. Sie fand die Dachziegelscherbe noch dort, wo sie sie immer abgelegt hatte. Damit gelang es ihr, einige große Placken Erdreich hereinzuziehen und das Loch so zu erweitern, dass sie sich hinausschieben konnte. Sie schielte nach rechts und links auf die Straße, wie früher, um zu prüfen, ob sie beobachtet wurde.
Der Geheimgang mündete hinter einer Häuserreihe beim Minoritenkloster. Die dunkle Gasse an der Stadtmauer war glücklicherweise menschenleer, viele Häuser waren auch hier vernagelt. Madelin schob sich ganz heraus und wühlte den Mist wieder über den Einschlupf, damit ihn niemand fand. Sie stand auf und sah an sich herunter. Der Rocksaum war teilweise aus dem Gürtel gerutscht. Als sie ihn glättete, erkannte sie, wie sehr sie sich eingesaut hatte. Missgestimmt klopfte sie den klebrigen Dreck so gut es eben ging von dem einzigen Kleid, das sie besaß und das in einer Stadt halbwegs präsentabel war. Dann lief sie an der Stadtmauer mit den großen dunklen Steinen entlang auf den Platz zwischen der Burg und Sankt Michael zu. Vielstimmiges Gewirr drang vom Platz zu ihr herüber,
und als sie um die Ecke kam, hielt sie bei dem Anblick, der sich ihr bot, inne.
Der Platz vor dem viertürmigen Kastell wirkte im Schein vieler kleiner Feuer, als berste er aus allen Nähten. Hunderte, nein Tausende Männer in bunter Kleidung hielten sich hier auf, die meisten Soldaten und Landsknechte. Letztere trugen auffallende Kleider in bunten Farben. Der Stoff an Brust und Ärmeln war bei vielen zerhauen, das Hemd zwischen den so entstandenen Schlitzen hervorgezupft.
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