Die Schicksalsleserin
Eiligen Türkenhilfe des Reiches?«, fragte Anna.
Lucas zuckte mit den Schultern. »Die Verstärkung sollte doch schon seit Wochen da sein. Jetzt stehen die Türken vor der Tür, und wir müssen sehen, wo wir bleiben.«
Madelin schluckte. Wie es schien, wusste der Feldhauptmann wirklich nicht, wie er Wien halten sollte.
Die beiden Landsknechte kamen mit gefüllten Säcken aus Annas Haus heraus und hievten sie auf einen Karren. »War nicht viel«, sagte der eine. Der andere rollte ein Weinfass heraus und hob es auf die Ladefläche.
»Das gehört mir!«, rief Anna entrüstet. »Ihr könnt mich nicht bestehlen, ich …«
Die Stimme der Frau ertrank in dem Glockenspiel von Sankt Anton und den umstehenden Kirchen, die zur frühen neunten
Stunde läuteten. Noch während des Geläuts fauchten plötzlich Flammen zu ihrer Linken im Wind. Zwei Häuser weiter verzehrte ein Feuer die trockenen alten Wände und griff schon nach den Kanten des hölzernen Dachs. Auch dort hatte man getränkte Lappen zur Entzündung benutzt, denn an verschiedene Stellen brach das Feuer in großen Stichflammen aus und fraß sich tiefer in das Gebälk hinein.
Ein alter Mann in grünem Landsknechtswams und flachem Hut stapfte herbei. »Steinkober! Brennt das Haus noch immer nicht?« Offenbar war er der Anführer der Landsknechte hier. »Aber die Frauen haben noch nicht gepackt …«
»Verstehe.« Der Mann hielt eine Fackel an die Ölspur, die der Lappen an der Wand hinterlassen hatte. Sofort leckten die Flammen gierig nach mehr. Dann warf er die Fackel durch die Haustür in die Werkstatt.
»Nein!«, schrie Anna und lief in das Haus hinein. Aus der Tür quoll bereits Rauch heraus - die Landsknechte, die die Vorräte herausgetragen hatten, mussten im Innern ebenfalls Öl verschüttet haben!
»Oh, mein Gott«, murmelte Madelin und wollte hinterher, doch der Blonde griff sie am Arm und hielt sie zurück. »Da gibt es nichts mehr zu machen!«, sagte er.
»Die Kinder«, schrie Madelin und versuchte, sich loszureißen. »Die beiden Kinder sind da noch drin!« Lucas erbleichte und ließ sie los.
Madelin schlang sich ihr Tuch vors Gesicht und rannte hinter Anna her. Von der Treppe zum Keller her drang Rauch herauf. Madelin hörte Weinen und Husten von unten und tastete sich die Stufen hinab. Als sie endlich unten ankam, sah sie die Schwester erst auf den zweiten Blick, so dicht war der Rauch. Sie stand über dem Gängelband der kleinen Elisabeth und fummelte mit zitternden Fingern an dem Knoten. Fritzl hatte sich
und die Schwester offenbar hinter den alten Möbeln in einer Ecke vor den Augen der Männer verborgen.
Madelin lief trotz des beißenden Rauches hinüber und zog Fritzl aus seinem Versteck. Sie nahm den hustenden Jungen auf den Arm. Jetzt hingen die Schwaden so dicht in der Kammer, dass sie kaum noch etwas sah. Sie schlug sich das Schienbein am Tisch, als sie sich vorantastete, dann prallte sie mit Anna zusammen.
Die keuchte und rang nach Luft. »Ich krieg’s nicht auf!«, schrie sie. »Das Band!«
»Anna! Nimm den Buben!« Madelin übergab der Mutter den Sohn. Dann griff sie tastend nach einem der geschliffenen Messer am Schleifstein. »Geh weg! Raus!«, rief sie und musste selbst husten. Madelin fand den Tisch, an dem das Band befestigt war, und schnitt es durch. Dann folgte sie dem Band zu dem Kind, das schreiend auf dem Boden lag. Erleichtert hob sie es auf und barg es in den Armen.
Die Wahrsagerin sah die Hand vor Augen nicht. Erst orientierte sie sich an der Wand, dann ging sie blind weiter, eine Hand um das weinende Kind geschlungen, die andere ausgestreckt, um sich nicht zu stoßen. Endlich ertastete sie die Zwischenwand und suchte nun die Tür zum vorderen Kellerraum.
Die Kehle fühlte sich inzwischen so rau an wie eine Holzraspel, denn der schützende Schal war ihr vom Gesicht gerutscht. Panik wollte in ihrem Bauch aufflackern, doch sie zwang sich zur Ruhe. Es nutzte dem kleinen Würmchen in ihrem Arm nichts, wenn sie jetzt den Kopf verlor. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, wo die Eingangstür zum Keller war, oder zu erkennen, ob irgendwo Rauch abzog, doch sie war wie blind.
Schließlich musste Madelin so stark husten, dass ihr der Kopf schmerzte. Sie versuchte zu schreien, doch das machte die Sache nur noch schlimmer. Verzweifelt klammerte sie sich an das
weinende Mädchen auf dem Arm und taumelte keuchend vorwärts. Als die Rauchschwaden schließlich so dick herüberdrangen, dass sie keine Luft mehr bekam, fiel sie
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