Die Schicksalsleserin
unanständig. Landsknechte vergnügen sich damit.«
»Ich bin eben keine anständige Frau, Anna. Außerdem ist das Mutters altes Spiel. Ich habe es mitgenommen.«
»Trotzdem … Ich habe einen Wanderprediger sagen hören, der Teufel habe die Karten geschaffen, damit die Menschen Gott freveln. Die Symbolik der Zahlen, der Zeichen … So etwas kann einen Menschen verderben.«
»Gott freveln?«, fragte Madelin. Sie betrachtete die kunstvoll gestalteten Karten. »Gott hat die Welt geschaffen, und die Welt hat diese Karten geschaffen. Genauso wie er die Sterne erschaffen hat, aus denen die Astrologen wichtige Hinweise über Ereignisse und die Welt ablesen.« Für Madelin war allein das Mischen wie ein kleiner Schöpfungsakt. »Ich spüre genau, dass die Hand des Schicksals jene Karten zusammenstellt, aus denen du deine Zukunft erspähen kannst. Was soll daran verderblich sein?«
»Ich weiß nicht«, gestand Anna. »Kann man damit denn sein Geld verdienen?«
»Für mich reicht es.«
»Und die Karten können mir sagen, wie es weitergeht?«, fragte Anna.
»Vielleicht. Die Welt ist groß und hält unendlich viele Möglichkeiten bereit. Die Karten helfen den Leuten, die Zukunft ein kleines bisschen weniger ungewiss zu machen. Man muss sie nur ergreifen.«
Madelin zog sich ihr rotes Tuch über den Kopf und schloss die Augen. Sie brauchte länger als üblich, um das Kerzenlicht
in ihrem Innern zu entzünden. Beinahe fühlte es sich an, als müsse sie erst dicke Schleier beiseiteschieben, damit es gelang. Dann fühlte sie ihre Verbindung mit jenem Größeren, das die Karten in einem heiligen und unschuldigen Akt so bereitete, wie es dem Schicksal entsprach. Seit über sechs Jahren spürte sie das schon, und sie hatte noch nie zweimal denselben Stapel vorgefunden. Jeder Mensch besaß in jedem Augenblick seines Lebens einen anderen. Wenn das nicht heilig war, was dann? Schließlich bot sie Anna die Karten dar.
»Und das ist wirklich Mutters altes Spiel?«, fragte die Schwester.
»Ja.«
Anna musterte Madelin mit wachem Blick. »Also gut.« Sie streckte die Hand aus und zog eine Karte.
Das Kind, das am Gängelband angebracht war, gab ein paar unverständliche Geräusche von sich. »Wer ist das kleine Edelfräulein?«, fragte Madelin.
»Lisbetl. Elisabeth.«
»Oh«, machte Madelin nur. Anna hatte ihre Tochter nach der Mutter benannt. Dann reckte sie neugierig den Hals. »Welche Karte ist es?«
Anna drehte sie um, so dass Madelin sie sehen konnte. Vor goldenem Hintergrund zogen zwei geflügelte Pferde mit mürrischen Gesichtern eine Plattform, auf der ein Herrscher thronte. Die Karte mit dem Wagen war ein Bild der Macht. »Der Streitwagen. Er zeigt Menschen auf, die ihren Weg ohne Furcht gehen, ihr wahres Selbst aber vor anderen verbergen.« Kurz fragte Madelin sich, ob die Karte für die Schwester oder für sie selbst stand, denn diese Eigenschaft teilten sie offenbar beide. »Er steht allerdings auf dem Kopf - ein Zeichen, dass Übles droht, dass man sich überschätzt.«
»Und was sagt mir das?«
»Zieh noch eine.«
Anna gehorchte stumm. Die zweite Karte zeigte zwei gekreuzte Stäbe, umschlungen von einem Spruchband und verziert von sie umgebenden Blütenranken. »Die Stäbe sind Symbole des Herrschers«, begann Madelin. »Sie stehen für den Willen und die Ausdauer. Doch die Zwei ist keine gute Karte, zwei Herrscher ringen um den Thron und bringen nur Ärger und Leiden. Zieh eine dritte!«
Als Anna den Mond aufdeckte, stockte Madelin erschreckt. Die Karte zeigte eine Frau im blau-roten Kleid mit strohblondem Haar. Sie trug eine Mondsichel in der Hand. Der Mond würde Anna mitteilen, was sie am wenigsten hören wollte.
»Ein Aufbruch steht bevor. Ein dunkler Weg mit vielen Gefahren. Anna …«, begann Madelin, um sie zu überzeugen.
»Bei der lieben Jungfrau, Madelin, hör auf!« Anna wurde blass.
»Aber du wirst weggehen müssen, du …«
»Ich will es aber nicht! Und ich will auch meine Zukunft nicht mehr wissen.«
Madelin zog sich erstaunt das Tuch vom Kopf. »Warum nicht?«
»Ich … wenn man weiß, was für Schrecken auf einen warten, muss man dann nicht verzweifeln?«
»Man ist gewarnt und kann versuchen, einen anderen Weg zu beschreiten.«
»Kann man das wirklich?«, fragte Anna. »Oder ist vom Tage unserer Geburt an nicht alles vorgezeichnet?«
»Nein!« Madelin riss nun der Geduldsfaden. »Und deshalb musst du jetzt packen und gehen! Ich weiß, dass du Angst hast. Ich hatte sie damals auch, als
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