Die Schicksalsleserin
Mitte des Raumes aber beherrschte ein Schleifrad, vor dem Anna in gebeugter Haltung saß. Sie trug ein Tuch vor dem Mund und ärmliche Arbeitskleidung. Gerade legte sie wieder eine Klinge an und das metallische Kreischen ertönte erneut. Im Hintergrund spielte ein mit einem Gängelband an der Wendeltreppe festgebundenes Kind mit einer geschnitzten Holzpuppe, vermutlich Fritzls Schwester.
Die Wahrsagerin konnte den Blick nicht von ihrer Schwester lösen. Die ärmlichen Kleider der Kinder, die Arbeit als Klingenschleiferin … Auf die plötzliche Gesellschaft aufmerksam geworden, hielt Anna inne und wurde rot. Sie bremste das Schleifrad aus. »Madelin! Was hast du hier zu suchen?«
»Du musst packen und das Haus verlassen, Anna.«
Die Schwester presste die Lippen aufeinander. »Ich gehe nicht weg«, sagte sie dann. »Das ist mein Heim. Es ist alles, was ich noch habe, und die Kinder …« Sie verstummte.
»Anna …«, begann Madelin, dann zügelte sie ihre Eile mühsam
und verstummte. Die Schwester klammerte sich an ihr Haus, weil es die einzige Sicherheit war, die ihr das Leben noch bot. Drängte Madelin sie, würde sie weder Sinn noch Verstand walten lassen, sondern sich stur stellen wie früher.
»Das Geld Friedrichs hat gar nicht mehr für dich und die Kinder gereicht, oder?«
Anna schüttelte den Kopf. »Ich hätte heiraten können, aber ich konnte nicht …«
Madelin verstand die Gefühle der Schwester jetzt besser. »Du hast Friedrich sehr geliebt, nicht wahr?«
Anna bekam erst kein Wort heraus, dann begann sie zu weinen. »Friedrich stand meinem Herzen sehr nah.«
Die Wahrsagerin trat langsam näher. »Es tut mir leid, Anna. Der Streit gestern - und damals.«
»Mir auch.« Anna schüttelte schluchzend den Kopf. »Ich bin froh, dass du zurück bist«, sagte sie. Madelin konnte nicht anders - sie ging neben die sitzende Schwester und zog sie an sich. »Ich bin auch froh.« Anna lehnte sich zaghaft an sie. »Ich dachte schon, du wärst tot.«
»Und ich dachte nicht, dass ihr euch nach dem großen Streit darum scheren würdet, wie es mir geht«, sagte Madelin.
»Du warst eben schon immer ein Depperl. Du hast einen Dickkopf wie unsere Mutter. Aber du bist doch meine Schwester!«
Damit war es trotz Madelins Unruhe um ihre Beherrschung geschehen, sie fühlte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen. »Ja, vermutlich bin ich das - ein Depperl.« Nach ein paar Augenblicken ließen sie einander wieder los und trockneten ihre Tränen.
»Dein Freund - Franziskus - ist er sehr krank?«
»Ja.«
»Ich wünschte, ich könnte helfen«, beteuerte Anna.
»Wir schaffen das irgendwie«, murmelte Madelin. Doch in ihrem Innern fühlte sie diese Hoffnung nicht. »Aber Anna, du musst wirklich packen.«
»Sie brennen tatsächlich die Vorstädte ab?«, fragte Anna mit zitternder Unterlippe.
Madelin nickte. »Heute Mittag ist auch diese dran. Dann ist dein Heim dahin, und du hast nichts mehr.«
Die Schwester erbleichte. »Aber … sie werden die Häuser doch nicht anzünden, wenn wir noch drin sind, oder?«
»Vielleicht nicht«, sagte Madelin. »Aber dann steht in ein paar Tagen das Hauptheer der Osmanen vor der Tür und legt Feuer. Willst’ das?«
»Nein«, sagte Anna bedrückt. »Aber wohin soll ich gehen? Die Kinder haben seit Friedrichs Tod genug gelitten. Fritzl spricht kaum noch. Er vermisst den Vater so sehr. Da kann ich sie doch nicht einfach wegschleppen!«
»Entweder du gehst zu Mutter. Oder du ziehst aus der Stadt. Es wird in ein paar Stunden noch einen bewachten Zug gen Krems geben.«
Einen Augenblick lang starrte Anna ins Nichts und rührte sich nicht. »Und dann?«
»Ich weiß nicht«, gestand Madelin. »Irgendetwas wird sich ergeben.«
»Das reicht mir nicht«, flüsterte Anna mit erstickter Stimme.
Die Wahrsagerin konnte ihre Ungeduld nur schwer beherrschen. Wie konnte sie der Schwester bloß verständlich machen, dass es manchmal keine Sicherheiten im Leben gab, aber auch keine Alternativen?
Madelin kam eine Idee. »Willst einen Blick in die Zukunft werfen? Würde dir das helfen zu sehen, wie es weitergeht?«
»Das kannst du?«
»Ich bin Wahrsagerin.« Madelin schnürte ihre Gürteltasche
auf und zog ihre Trionfi-Karten heraus. Sie legte sie auf den kleinen Tisch, der etwas abseits vom Schleifrad stand. Sie rückte zwei Hocker heran und setzte sich.
»Die Zukunft zu erspähen … Soll man das denn?« Anna kam herüber und beäugte die Karten zweifelnd. »Spielkarten sind doch …
Weitere Kostenlose Bücher