Die Schicksalsleserin
dann gemeinsam aus der Stadt.«
»Aber Anna will doch bleiben«, sagte Madelin.
»Wir fragen besser Walther, den Landsknecht.«
»Aber wenn man alle herbringt, dann müssten meine Freunde doch auch irgendwo sein.« Sie reckte den Hals.
»Sind sie mit euren Karren unterwegs?«, fragte Lucas. »Dann sollte man sie ja eigentlich leicht finden, oder?«
»Ja, eigentlich sollte man das.«
»Wenn sie nicht bald da sind, werden sie den Zug verpassen«, sagte er und hob ebenfalls den Kopf über die Menge. »Wie heißt du eigentlich?«
»Man nennt mich Madelin.«
»Madelin? So heißt doch niemand.«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich so heiße. Man nennt mich aber so.«
»Und wie heißt du?«, fragte er.
Sie zögerte. »Warum willst’ das wissen?«
»Weil ich ›Mädchen‹ eher für eine Bezeichnung halte als für einen Namen. Es klingt herablassend.«
Für einen Augenblick erwog Madelin tatsächlich, ihm ihren echten Namen zu nennen. Doch Meryem hatte sie nur die Mutter genannt, wenn es Strafen zu verteilen galt. »Alle nennen mich Madelin.«
Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Ich finde nur, dass er nicht zu dir passt.«
»Bislang hat sich niemand beschwert«, gab die junge Frau zurück und begegnete seinem Blick. Sie fand keinen Spott in den blauen Augen.
In der Wahrsagerin wuchs die Sorge, von Franziskus und den anderen getrennt zu werden. Sie sah sich erneut um. Je weiter sie sich in die Menge schob, desto mehr musste sie sich gegen das Geschiebe und Gedränge wehren. Was, wenn die Freunde bei Sankt Michael warteten und es nicht aus der Stadt heraus schafften? Das durfte nicht geschehen. »Warum bleibst du eigentlich hier, Lucas?«, fragte sie unvermittelt den jungen Mann an ihrer Seite.
»Ich habe mich freiwillig zu den Gerichtsknechten gemeldet. Wir sorgen für die Ordnung in der Stadt und helfen den Soldaten. Und wir passen auf, dass niemand plündert.«
»Das heißt, ihr traut den Soldaten nicht?«
»Niemand traut den Soldaten. Aber darum geht es nicht nur. Wir kennen uns in der Stadt besser aus und können wertvolle Hinweise geben.«
»Das ist sehr tapfer«, sagte Madelin. Ihr Blick streifte bedauernd
den Studenten mit dem abstehenden hellblonden Haar. »Aber auch ein bisschen dumm, oder?«
»Möglich«, erwiderte Lucas. »Aber ich weiß nicht, wohin ich sonst gehen soll. Hier bin ich zu Hause.«
»Es gibt immer einen Ort, an den man gehen kann, Lucas. Die Welt ist groß.« Madelin musterte ihn eingehend. »Und das ist auch gar nicht der wahre Grund, warum du bleibst, oder?«
Der junge Mann zog erstaunt die Augenbrauen hoch, doch bevor er etwas erwidern konnte, schlug das Primglöcklein hell eine weitere Viertelstunde an. Dann folgte das ohrenbetäubende Geläut sämtlicher Kirchen Wiens - die Schotten, die Minoriten, die Kirche Am Hof, Maria Magdalena vor den Mauern und sicher ein Dutzend weiterer Glocken rangen miteinander um die lauteste, klangvollste Verkündigung der zehnten Stunde. Als wären sie aufeinander abgestimmt, passten die Klänge trotz ihrer Vielzahl erstaunlich gut zueinander und schwangen erhaben über den rauchdurchzogenen Himmel der Stadt.
Madelin blickte auf die kleine Familie. Anna, Fritzl und der weinenden kleinen Elisabeth stand der Schrecken der Ereignisse eben noch ins Gesicht gezeichnet. Doch Madelins eigene Unrast vertiefte sich. »Sie sind nicht hier«, sagte sie. »Franziskus und die anderen müssen noch irgendwo in der Stadt sein.«
»Meinst’ nicht, dass sie noch kommen?«
»Wenn sie nicht hergebracht worden sind, dann muss etwas dazwischengekommen sein. Ich muss sie suchen gehen.« Wie sie die Freunde kannte, hatten sie sich eher versteckt als von Soldaten zusammentreiben lassen wie Vieh.
»Willst’ riskieren, ihretwegen vielleicht den Zug zu verpassen?«
»Diese vier sind alles, was ich habe. Nie im Leben würde ich sie zurücklassen, ohne zu wissen, dass es ihnen gutgeht. Nein, ich kenne mich viel besser in Wien aus und kann sie herführen.
Hier bewegt sich doch noch lange nichts. Und wenn die Ersten gehen, dauert’s sicher eine Stunde, bis alle hinaus sind.«
»Steinkober!« Der Anführer des Trupps Landsknechte, der sie hergebracht hatte, schob sich durch die Menschen zu ihnen herüber. »Du hast Order, niemanden rauszulassen!«
»Die Frau dort will mit ihren Kindern zur Mutter am Hohen Markt, Walther.«
»Das geht nicht.«
»Warum nicht? Ihr tut ja fast so, als müssten wir gehen!«, protestierte Madelin.
»Das müsst ihr auch. Befehl von
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