Die Schicksalsleserin
ich weggegangen bin. Aber man kann seine Augen nicht ewig vor dem Unvermeidbaren verschließen! Irgendwann holt es einen ein, und dann muss man handeln.«
Anna starrte mit hängenden Schultern ins Leere, so als wäre jegliche Spannkraft aus ihrem Körper gewichen.
»Anna, bitte! Denk an die Kinder.«
Die Schwester schloss kurz die Augen. »Ich tu doch nichts anderes, Madelin. Ich will bloß, dass die Kinder sicher sind.« Doch dann nickte sie. »Also gut, ich gehe, aber nur zu Mutter in die Stadt. Wirst du mit mir kommen?«
»Nein, Anna - zu Mutter gehe ich nicht. Du weißt, wie die Dinge zwischen uns liegen. Aber ich bringe dich dorthin. Du sollst nicht allein gehen.«
»Das ist gut.« Anna fuhr sich übers Gesicht. »Ich muss ein paar Sachen packen.« Dann stand sie auf und ging die Treppe hinauf.
Madelin atmete erleichtert aus und hütete derweilen die Kinder.
Da hallte von der Tür her ein Krachen durchs Haus. »Mutter?«, rief Fritzl ängstlich.
Madelin lief zur Treppe. »Bleib hier und pass auf deine Schwester auf. Versteckt euch und haltet euch ganz ruhig …« Ein neuerliches Krachen erklang, und sie lief hinauf in den Wohnbereich.
Anna hatte die Tür noch nicht ganz geöffnet, die von der Kemenate zum Werkstattbereich führte, da brach die Haustüre mit einem Gepolter auf.
»Zwei Mann rein, schaut nach, ob ihr Vorräte findet«, ertönte eine Stimme. »Wertgegenstände auch, aber nur, was sich tragen lässt, Jungs! Albert, Lucas, seht zu, dass ihr die Öllappen bereithaltet. Hier muss in einer Stunde alles brennen.« Schwere Stiefeltritte waren auf dem Dielenboden der Werkstatt zu hören, und Gerät fiel polternd zu Boden. Jemand durchwühlte Friedrich Ebenrieders altes Werkzeug.
Anna riss mit einem Ruck die Tür zur Werkstatt hin ganz auf
und eilte hinein. »Was bildet ihr euch ein! Macht zu, dass ihr aus meinem Haus kommt! Lasst das stehen! Raus!«
Madelin war der Schwester gefolgt. In der Werkstatt standen zwei Männer in Handwerkerstracht. Beide ließen sich von Annas Rufen nicht abhalten, sondern durchsuchten weiterhin den Raum. »Hier ist nichts mehr!«, schnaufte der Ältere. »Weib, sind im Keller Vorräte?«
»Ihr werdet einen Teufel tun, meinen Keller zu plündern!«, rief Anna und stellte sich den Männern in den Weg, aber einer riss sie am Arm beiseite und schleuderte sie in den Raum hinein, so dass sie auf den Boden fiel. »Nun reg dich mal nicht so auf.«
Madelin half Anna auf, die sich glücklicherweise nicht verletzt hatte. »Wer sind die?«, fragte sie die Schwester leise.
»Die Gerichtsknechte des Stadtrichters und Landsknechte, glaube ich. Es sind Tausende in der Stadt. Sie benehmen sich wie die Schweine!« Anna machte Anstalten, hinter den beiden Männern herzulaufen, die im Keller verschwunden waren. Doch Madelin hielt sie zurück. »Das bringt nichts, glaub mir.«
»Aber die kommen in mein Haus und benehmen sich, als wenn’s ihnen gehörte!« Die Stimme der Schwester zitterte vor Wut. »Das ist mein Haus!«
»Die beiden sind aber nur Fußvolk, Anna. Wir müssen mit dem Anführer sprechen, wenn es denn einen gibt.«
Anna eilte unversehens zur ramponierten Haustür hinaus. »Du, da! Ja, du, lass das! Leg die Lappen weg! Nein!« Der letzte Ruf war so schrill, dass Madelin den Schritt beschleunigte, um der Schwester beizustehen. Als sie aus dem Haus trat, prallte sie mit jemandem zusammen. Erstaunt stellte sie fest, dass es sich dabei um den Medizinstudenten von gestern handelte. »Lucas!«, rief sie erfreut. Bei dem jungen Mann saß das Herz am rechten Fleck, das wusste sie.
»Ah, sei gegrüßt!«, erwiderte er offenbar genauso froh gestimmt. Ein weiterer Mann neben ihm warf einen mit Öl getränkten Lappen auf das Dach des Hauses. »Was macht ihr denn noch hier im Haus? Die Vorstädte sollen doch längst geräumt sein!«
»Ich dachte, dieses Viertel soll erst heute Mittag abgebrannt werden?«
Lucas runzelte die Stirn. »Also, wir haben andere Befehle. Es muss wohl schnell gehen, glaube ich.« Er deutete gen Westen. Tatsächlich - erste Rauchschwaden stiegen jetzt auch von diesen Gebieten auf. Sogar das ferne Magdalenenkloster vor den Schotten schien schon zu brennen.
Der Mann neben ihnen warf unbeirrt einen zweiten Lappen auf das Dach. »Nicht!«, bat Madelin. »Muss das wirklich sein?«
»Salm hat’s beschlossen«, sagte der Mann. »Die alte Stadtmauer soll die Hauptverteidigungslinie sein. Wir können die Vorstadtzäune nicht bemannen.«
»Was ist mit der
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