Die Schicksalsleserin
- sie waren in Schafsfelle gehüllt, trugen ungepflegte lange Bärte und vom Schlamm besudelte Beinkleider, die ihnen an den Leibern klebten. Alle trugen Kopfbedeckungen oder hatten sich Fetzen um den Kopf geschlungen - gegen den Regen, nahm Anna an. Sie erweckten den Eindruck von Barbaren. So musste Attilas Horde ausgesehen haben, dachte sie. Doch das Schlimmste war, dass sich mehrere unterschiedlich große Gruppen von diesem Hauptangriff abgespalten und die Verfolgung der Flüchtlinge aufgenommen hatten. Anna blickte nach vorne zur Baumgrenze. Sie musste es schaffen, sonst … Sie wollte nicht darüber nachdenken, was sonst geschähe, und strengte sich noch mehr an.
In diesem Augenblick entglitt ihr Fritzls Hand. Der Junge stolperte und blieb hinter ihr zurück. Er schrie vor Angst auf. Anna hielt keuchend an und rannte zurück. Sie schnappte sich Fritzl, zog ihn auf den Arm - wie schwer er geworden war! -
und lief weiter. Sie würde nicht das Schicksal ihrer Mutter teilen.
Anna rannte. Schon nach wenigen Schritten spürte sie das zusätzliche Gewicht auf dem Arm deutlich. Sie wurde so langsam! Doch sie dachte nicht daran, Fritzl allein weiterlaufen zu lassen - er war zwar für sein Alter flink und zäh, doch er war erst fünf. Er durfte den Osmanen nicht in die Hände fallen! Bald zitterten ihre Arme vor Erschöpfung. Der Schmerz darin würde über kurz oder lang dafür sorgen, dass ihre Muskeln erlahmten. Inzwischen hörte sie Männerrufe und Frauenschreie - vielleicht waren sie auch die ganze Zeit da gewesen, und sie hatte sie bloß verdängt. Die Rufe erinnerten an kurze und knappe Befehle. Die Schreie ließen Anna das Mark in den Beinen gefrieren. Schrecken und Verzweiflung, ja Panik sprachen daraus. Sie verliehen Anna neue Kraft und verdrängten das Zittern der Muskeln in ihren Armen. Als sie die schweren Galoppsprünge von Pferdehufen näher kommen hörte, änderte sie spontan die Richtung auf eine kleine Baumgruppe zu.
Dort, wo Anna eben gelaufen war, schlugen zwei Pfeile hart in den Boden ein. Der jungen Frau brach der Schweiß aus. Sie schlug einen neuerlichen Haken, und dann noch einen, doch sie sah keine Pfeile mehr niedergehen. Sie schlitterte, Fritzl noch auf dem Arm und Elisabeth auf dem Rücken, auf dem seitlichen Oberschenkel ein kurzes Gefälle hinunter. Das Bein brannte, doch sie spürte keinen Schmerz. Inzwischen hatte Anna die Hälfte der Strecke zu der Baumgruppe zurückgelegt. Den Rest würde sie auch noch bezwingen!
Um Luft ringend hastete die Mutter weiter. Sie verlagerte Fritzls Gewicht auf die Hüfte und rannte, bis sie meinte, sich vor Anstrengung übergeben zu müssen. Die Erde bebte immer stärker, während sich Pferde und Reiter hinter ihr näherten. Sie wagte einen weiteren kurzen Blick über die Schulter und
sah, dass ihr zwei Osmanen dicht auf den Fersen waren. Zu dicht. Die Baumgruppe war nur noch zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig lange Schritte entfernt. Sie musste es schaffen!
In diesem Augenblick sah sie die Menschen, die sich bereits im Schutz der Baumgruppe auf den Boden duckten. Heinrich war einer von ihnen, sie erkannte sein Gesicht ganz deutlich zwischen den Zweigen eines Busches. Ihr Herz hämmerte vor Freude und Hoffnung. Dann fühlte sie, wie ihr Fuß sich an einem Grasbüschel verfing.
Die Zeit schien sich zu verlangsamen, während sie der Länge nach auf den Boden stürzte. Sie versuchte noch, sich zu drehen, um nicht auf Fritzls kleinen Körper zu fallen. Der Boden der Wiese war zwar weich, doch Fritzls Knochen waren das auch. Statt mit dem Bauch zuerst aufzuschlagen, rammte sich ihre linke Schulter schmerzhaft ins Gras, der Aufschlag raubte ihr für einen Augenblick die Luft. Sie blinzelte mehrfach, um die tanzenden Flecken von ihren Augen zu vertreiben. Dann sah sie in Heinrichs Gesicht, das nur noch wenige Schritte von ihrem entfernt war. Seine Augen waren weit aufgerissen. Dann schnellte er mit einem Ruck hoch. Wollte er ihr beistehen? Hoffnung ließ ihr Herz wild gegen den Brustkorb hämmern. Heinrich sprang auf, das sah sie genau! Doch er drehte sich um und rannte tiefer in das Waldstück hinein.
Anna verstand zunächst nicht, wie ihr das helfen sollte; warum er das tat. Doch dann begriff sie, und es traf sie hart. Heinrich würde ihr nicht helfen. Er war sich selbst der Nächste. Er rannte um sein Leben, weil sie, Anna, den Feind direkt zu seinem Versteck geführt hatte.
»Hilfe!«, schrie sie, denn wo Heinrich eben noch gekauert hatte, hielten sich
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