Die Schicksalsleserin
auf dem Rücken und den klammernden Griff des kleinen Fritzl. Aber es gab eben nur sie, und so fasste sie seine Hand fester und schritt als Teil der riesigen Menge entschlossen voran.
Die Reiterei hielt sich in mehreren Gruppen um den Zug der Flüchtlinge verteilt. Es hatte beständig geregnet, so dass die Menschen wenigstens keinen Staub schlucken mussten. Doch das feuchtkalte Wetter und der Matsch auf der Straße erleichterten das Marschieren nicht. Ein Blick zurück zeigte, dass man Wien kaum noch erkennen konnte. Bloß die Spitze des hohen Südturms von Sankt Stephan ragte noch in ihr Blickfeld. Als sie sich wieder umdrehte, taumelte sie gegen einen anderen Flüchtling und verlor beinahe das Gleichgewicht.
»Heda, Obacht«, rief der Mann und fing sie am Ellenbogen auf. »Ihr tut Euch ja noch weh.« Er mochte kaum älter sein als Anna. Sie schlug die Augen nieder.
»Danke schön«, stotterte sie dann. »Ich … Das ist wohl alles ein bisschen zu viel.«
»Wem sagt Ihr das«, erwiderte der junge Mann. »Ich bin Heinrich.«
»Anna.«
»Und wer sind diese beiden Zwerge hier?«, fragte er und lugte über Annas Schulter zu Lisbetl.
»Meine Kinder. Fritzl und Elisabeth.«
Heinrich wuschelte Friedrich durch das Haar, doch der Junge verbarg sich hinter Annas Rock.
Anna musterte Heinrich. Er war schlank und trug eine schwarze Studentenrobe. Irgendetwas an ihm kam ihr merkwürdig vertraut vor, obwohl sie ihn nicht kannte. Seiner Sprache und dem Benehmen nach kam er aus sehr gutem Hause, vielleicht reiches Bürgertum, eventuell sogar von Stand.
»Herr Heinrich«, begann sie. »Ihr …«
»Alarm!« Der Alarmruf erklang so nah bei ihnen, dass Annas Herz einen Schlag aussetzte. Sie zog Fritzl näher an sich und sah sich um - zusammen mit mehreren Hundert anderen Menschen. Da sie nicht sehr groß war, konnte sie nicht viel erkennen
- außer dass die Reitergruppe, die sich in ihrer Nähe gehalten hatte, davongaloppierte. Und so plötzlich, wie das alles geschah, nahm Anna gewahr, wie ein Reiter herumgerissen und aus dem Sattel geschleudert wurde. Um sie herum brach Panik aus.
»Anna, du musst laufen!«, rief neben ihr jemand - vermutlich dieser Heinrich. Sie sah, wie er sich noch einmal nach ihr umdrehte, um dann mit den anderen Leuten davonzulaufen. Anna wollte es ihm gleichtun, doch ihre Beine bewegten sich nicht.
Fritzl zupfte an ihrer Hand. Sie wollte laufen, doch der Befehl dazu verebbte irgendwo zwischen ihrem Kopf und dem eisigen Magen.
»Mama?«
Anna reagierte erst, als Elisabeth auf ihrem Rücken anfing zu weinen. Die Mutter sah sich um. Durch ihre Starre waren die meisten Menschen schon an ihr vorbei und rannten nach vorne auf ein nahe gelegenes Wäldchen zu, um dort Schutz zu suchen. Am Ende des Zuges sammelte sich die Reiterei, die Graf zu Hardegg ihnen zu ihrem Schutz mitgegeben hatte. Die osmanischen Reiter standen beinahe in ihren Steigbügeln, ließen die Zügel baumeln und spannten bereits wieder die Bögen. Was für eine teuflische Kunst! Anna hielt nicht inne, um die Angreifer genauer zu mustern. Plötzlich stand das Verbrechen wieder vor ihren Augen, das einer von denen vor zwanzig Jahren ihrer Mutter angetan hatte und damit ihren Ruf und ihre Ehre mit einem einzigen brutalen Akt der Gewalt vernichtet hatte. Sie musste weg hier.
Anna lief los. Sie zog Fritzl hinter sich her und rannte, so schnell sie und das Kind es vermochten. Der Junge wusste die Situation offenbar einzuschätzen, denn er beschwerte sich nicht, sondern klammerte sich bloß verzweifelt an ihrer Hand
fest und tat es ihr gleich. Sie rannten ein sachtes Gefälle hinunter und durch ein paar Büsche hindurch, die Anna schmerzhaft ins Gesicht peitschten. Doch sie bildete sich nicht ein, dass diese Deckung ausreichen würde, um die berittenen Teufel hinter ihr zu täuschen. Sie zog Fritzl mehr als dass er lief. Irgendwann fing er an zu weinen. Das war der Augenblick, in dem sie das Hufgetrappel hinter sich hörte.
Der Zwang, sich umzudrehen, war zu groß. Anna musste wissen, wie nahe die Gefahr war. Sie warf einen Blick zurück über die Schulter. Was sie sah, sandte ihr einen neuen Schrecken in die Glieder.
Die Reiterei wurde niedergemäht wie Strohgarben unter einer Sense. Ein Pfeilhagel prasselte auf sie herab, während die Osmanen im gestreckten Galopp an ihnen vorbeizogen. Gegen die vielleicht einhundert berittenen reichskaiserlichen Truppen stand ein Meer von Wilden auf kleinen zähen Tieren. Und wild sahen sie beileibe aus
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