Die Schicksalsleserin
Nach einer Pause fügte sie fast entschuldigend hinzu: »Das erzählt man sich zumindest in Buda.«
Lucas schluckte. Wenn der Anführer der Osmanen wirklich ein solches Genie war, wie konnte Graf Salm dann auch nur
die Hoffnung hegen, gegen ihn bestehen zu können? Mit einer Besatzung in der Stadt, die ein Zehntel von dessen Truppen zählte?
Lucas wandte seinen Blick über Madelins Kopf nach Westen zurück. Dort schlossen die Truppen der Osmanen jetzt den Ring um die Stadt. Den einzigen Weg heraus boten die Brücken nach Norden, über die Donauarme. Erleichtert stellte Lucas fest, dass man die Stadt so noch mit Vorräten versorgen konnte. Trotzdem fühlte es sich an, als würde ein steinerner Sarg zugestoßen, während er noch lebend darin lag.
Madelin musste es auch fühlen, denn sie schlang die Arme um den Leib, als ob sie fröstelte. Lucas legte ihr die Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen. Als ihre Finger sich mit seinen verschränkten, musste er blinzeln. Er wusste nicht, ob ihm Freude oder Trauer die Feuchtigkeit in die Augen trieb. Noch nie hatte er sich einem Menschen so nahe gefühlt. Er verfluchte das Schicksal. Warum musste er ihr ausgerechnet in den Tagen begegnen, in denen seine Stadt sich der größten Bedrohung gegenübersah, die sie vermutlich je erlebt hatte?
KAPITEL 7
V or ihnen schlug eine Kirche die morgendliche elfte Stunde des fünfundzwanzigsten September an. Das Geräusch schnitt Anna Ebenrieder ins Herz, erinnerte es sie doch, kaum eine Tagesreise von Wien entfernt, an den Klang von Sankt Anton daheim. Doch ›daheim‹ gab es nicht mehr, mahnte sie sich. Ihr Zuhause war gestern von Flammen verzehrt worden. Andere mochten nach diesem Krieg in ihre Heimat zurückkehren. Doch sie selbst war jetzt so heimatlos, wie ihre Schwester gewesen war - schon immer gewesen war, wenn man ihren Worten Glauben schenken mochte.
Anna hatte Madelin seit dem Aufbruch gestern in der großen Gruppe der Fliehenden gesucht, doch bislang ohne jeden Erfolg. Sie musste sich der Erkenntnis stellen, dass es der Schwester nicht gelungen war, noch rechtzeitig zum Zug zu stoßen, um die Stadt mit ihnen zu verlassen. Das bedeutete, dass sie in Wien würde bleiben müssen.
Eine tiefe Sorge um die Schwester erfasste Anna, wie damals, als Madelin ohne Abschied verschwunden war. Vor sechs Jahren war sie überzeugt gewesen, dass Madelin irgendwo tot im Graben läge. Als die Nachricht von einem Bekannten gekommen war, er hätte das Mädchen in Buda in Begleitung eines Priesters gesehen, war Anna dann fuchsteufelswild geworden. Die Mutter hatte Boten ausgesendet, um sie zurückzuholen, doch Anna hatte sie nicht wiedersehen wollen. Sie war so wütend gewesen. Wütend über den Streit, und darüber, dass Madelin sie allein in Wien zurückgelassen hatte, ohne sich auch nur darum zu scheren, wie es Anna ging. Ohne Bescheid zu sagen,
dass sie fortgehen wollte, warum sie fortgehen wollte. Als die Boten dann allein zurückgekehrt waren, hatten sie berichtet, es habe keine Spur von ihr oder dem Priester gegeben. Anna hatte sich drei Tage lang in ihrer Kammer eingesperrt und geweint. Friedrich, ihr frisch angetrauter Ehemann, hatte die Welt nicht mehr verstanden.
Anna ergriff die Hand ihres Sohnes Fritzl und verlagerte das Gewicht der kleinen Elisabeth, die sie in einem Tuch auf den Rücken gebunden hatte. Fritzl war noch schreckhafter als sonst und sagte kaum noch einen Ton, seit sie Wien verlassen hatten. Sie selbst war müde. Die letzten Tage hatten so viele Umwälzungen mit sich gebracht, dass sie kaum glauben wollte, dass ihr Leben vor einem Monat noch in relativ alltäglichen Bahnen verlaufen war.
Als sie die Schwester vorgestern vor der Tür hatte stehen sehen, hatte sie zunächst nicht gewagt, sich zu freuen. Die alte Wut hatte sie dazu getrieben, Madelin von der Schwelle zu scheuchen. Doch als diese verraucht war, hatte sie Tränen darüber geweint, dass die Schwester am Leben war. Bislang hatte sie nicht gewusst, ob das aus Freude oder Scham geschehen war.
Jetzt, nachdem sie die Schwester zurückgewonnen und gleich darauf wieder verloren hatte, fühlte Anna sich leer, denn gestern Morgen hatte sie zu hoffen gewagt, nicht mehr allein kämpfen zu müssen, so wie das vergangene halbe Jahr. Sie war es leid, niemanden an ihrer Seite zu wissen, der sich, so wie Friedrich damals, liebevoll und sorgend für ihr Wohlergehen einsetzte. Jetzt vermisste sie den Ehemann mehr als zuvor. Sie spürte das Gewicht der Tochter schwer
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