Die Schicksalsleserin
solche Barbaren waren - würde der Sultan dieses Geschenk zu schätzen wissen? Oder würde er es gelangweilt seinen Leuten zum Spielen zuwerfen? Ein Schauer fuhr Christophs Rücken hinunter, als der Anführer sie zwang, sich ordentlich aufzustellen und in Bewegung zu setzen. Sie würden bald herausfinden, ob ihre Hinrichtung bloß aufgeschoben war.
Die Gruppe durchquerte eine halbe Stunde lang das Lager der Osmanen. Das bestand aus einem Meer spitz aufragender bunter Zelte, das dicht an dicht um Feuerstellen versammelt und mit seltsamen Feldzeichen versehen war. Der kleine Zug erregte schnell Aufsehen, als ihre Bewacher den Soldaten etwas zuriefen, die sich an der Straße versammelten. Meist erklang als Antwort ein und dieselbe Formel: » Allahu akbar !« Schließlich - sie mussten ungefähr bei Ebersdorf angelangt sein - erwartete sie eine Zeltstadt, die nur mit einem Palast vergleichbar war. Darum herum war ein freier Platz angelegt, den Dutzende Geschütze und Verschanzungen bewachten. Christoph sah zurück. Es mochten zu Fuß zwei Wegstunden bis zum Stephansdom von Wien sein.
Das Zelt des Sultans glich von außen eher einer Stadt oder gar einer Festung. Kostbare Stoffbahnen mit Gold- und Silberdrahtstickereien
sprachen von unermesslichem Reichtum, geschnitzte Laternen verbreiteten ein golden glühendes Lichtermeer und kunstvolle Teppiche auf Strohmatten dämpften den Schritt, jeder einzelne vermutlich mehr wert als so manches Streitross. Wohin man sah, behielten Wachen in prachtvollen Rüstungen und weißen Kappen die mährischen Reiter mit ihren Lanzen im Blick, die gespannten Bögen in den Händen, die locker eingelegten Pfeile wiesen auf den Boden. Christoph forderte seine Leute leise auf: »Keine falsche Bewegung oder wir sind alle tot, bevor wir die Lanzen auch nur anlegen können.« Dies musste die Leibwache des Sultans sein, die besten Soldaten seiner berüchtigten Elitegarde, der Janitscharen. Den Gerüchten zufolge gingen sie ähnlich tödlich mit modernen Arkebusen um wie mit den traditionellen kurzen Kompositbögen.
Auf der Wiese vor dem Zeltpalast des Sultans, der so hoch aufragte wie ein zweistöckiges Gebäude und wie ein exotisches Türmchen mehrere abgesetzte Einschnürungen aufwies, saßen unter freiem Himmel sicher drei oder vier Dutzend Männer in einem Halbkreis, geschützt unter Baldachinen und Zeltvordächern. Alle trugen orientalische Gewänder, goldfarben, rot und blau, verziert mit goldenen Stickereien und Juwelen. Die allgegenwärtigen Kopfbedeckungen bestanden bei vielen aus um den Kopf gewundenen Tüchern, manche trugen aber feste hohe Mützen, andere die weißen Kappen der Janitscharen. Der Stoff dieser Kappen war so lang, dass er in einem Knick bis auf den Rücken der Männer fiel. Ein hochstehender Busch Pferdehaar kennzeichnete sie als Offiziere.
Es war eine beeindruckende Schau. Christoph Zedlitz von Gersdorff erkannte, dass Tannhardt von Pollern sich getäuscht hatte. Nicht alle Osmanen ähnelten wild daherreitenden Viehhirten auf zotteligen kleinen Pferden. Und nicht alle schienen
Raufbolde zu sein, im Gegenteil. Eine Pracht, wie sie diese Würdenträger entfalteten, hatte der Bannerträger sonst nur im Hofstaat des Kaisers selbst gesehen.
Erst auf den zweiten Blick erkannte Christoph, dass sich die Vorzelte mit den Männern darunter um einen Mittelpunkt gruppierten. Ein mit Brokatstoffen und Perlschnüren geschmückter Baldachin vor dem Prachtzelt tauchte den Bereich darunter in tiefe Schatten. Dort saßen mehrere Männer und auch die ersten Frauen, die Christoph hier sah - Sklavinnen, mutmaßte er, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass der Sultan seinen berühmten Harem mit auf ein Schlachtfeld nahm.
Zentrum der Gruppe unter dem Baldachin war ein schlanker Mann, gegen dessen Kleidung die seiner Untergebenen geradezu schlicht wirkte. Ein rotes Untergewand, das über und über mit Goldfäden bestickt war, wurde von einer langen Weste in königlichem Blau bedeckt, auf der sich das Stickmuster weiter fortsetzte. Bei jeder Bewegung reflektierte das Gewand das spärliche Licht mit der Wärme polierter Goldscheiben und dem Funkeln facettiert geschliffener Diamanten. Das Haupt des Mannes wurde gekrönt von einem kunstvoll geschlungenen weißen Tuch, das ganz oben von einer roten Spitze gehalten wurde. Eine Vielzahl von goldenen Ringen mit dicken Edelsteinen schmückte seine langen Finger. Das musste Sultan Süleyman sein. Seine Pracht überragte die seiner Würdenträger
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