Die Schicksalsleserin
die Moral …«, er strich sich über den roten Bart, der in den letzten Tagen gewachsen war. »Ich glaube, sie kommen mit dem Regen und der Kälte nicht klar. Aber es ist schwer zu sagen, wenn man kein Wort versteht.«
»Sie sind trotzdem kampfbereit, nehme ich an?«, fragte Christoph.
»Oh ja. Sie scheinen immer kampfbereit zu sein. Im Gegensatz zu uns«, grinste von Pollern schief. »Für uns ist dieser
Krieg vorbei.« Er legte sich auf sein Lager zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
»Das erfreut Euch?«, fragte Zedlitz. »Kein Kampf bedeutet auch keine Gelegenheit mehr, die Schande auszugleichen.«
Tannhardt sah zu ihm herüber. »Ihr habt Euch tapfer geschlagen, Christoph. Ihr hättet nichts tun können.«
»Doch«, gab Christoph bitter zurück. »Ich hätte andere vorpreschen lassen und mit dem Banner an der Seite meines Herren bleiben können, wie es mir aufgetragen worden ist.«
»Ihr habt versucht, von Kempff das Leben zu retten. Gott allein weiß warum ausgerechnet ihm - aber trotzdem war es eine Heldentat.«
Christoph schüttelte den Kopf. Seine Rettungsaktion fühlte sich nicht an wie eine Heldentat. Er wusste, warum er sie angegangen war - nämlich um sich endlich in von Kempffs Augen als mutiger Mann zu beweisen. Dafür hatte er seine Pflicht vernachlässigt und hatte versucht - so unerfahren, wie er im Kampf war -, sich gegen die osmanische Reiterei zu stellen. Er war kein Held, er war ein verdammter Narr.
Zedlitz legte vorsichtig die Hände an den Kopf und rieb sich die Schläfen durch den Verband. Was konnten sie jetzt noch tun? Sollten sie ausbrechen und nach Wien zurückkehren? Den Kampf wieder aufnehmen? Wenn sie dabei noch Gefangene unter den Türken machen könnten, dann würden sie vielleicht wohlwollend in Empfang genommen. Vielleicht könnten sie sogar herausfinden, wo Graf zu Hardeggs Banner aufbewahrt wurde und es ihm zurückbringen, getränkt im Blut seiner Feinde …
Christoph Zedlitz von Gersdorff lachte trocken auf. Wie üblich entwarf er ein Bild der Geschehnisse, das nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Wenn da draußen Tausende von Türken lagerten, würden diese Männer hier bei einem Ausbruch
tot sein, bevor sie die Wachen auf den Mauern auch nur sehen, geschweige denn ihre Befehlshaber beeindrucken konnten. Er musste anfangen, den Tatsachen ins Auge zu blicken. Christoph streckte die Gliedmaßen und stellte fest, dass die Beweglichkeit zurückkehrte.
Es rumpelte an der Tür, dann wurde sie mit einem lauten Klappern aus dem Rahmen gehoben und beiseitegestellt. Christoph fühlte augenblicklich die Anspannung im Raum. Die Männer sahen ihn an, als warteten sie auf eine Entscheidung. Er fluchte stumm. Zusammen hatten die sechs Mährischen und von Pollern vermutlich mehr Jahre auf dem Schlachtfeld verbracht, als sein eigenes Alter in Jahren betrug. Aber er war der Bannerträger und damit der Ranghöchste unter ihnen. Also ruhte die Verantwortung über ihr Leben nun bei ihm. Der Gedanke trieb ihm den Schweiß auf die Stirn.
Die Osmanen betraten den Raum und kamen auf ihn zu. Ihr Anführer packte ihn am Stoff seines Unterzeugs - den Kürass hatte man ihm abgenommen - und zog ihn auf die Beine. Zedlitz griff sich an den Kopf und versuchte, ein Stöhnen zu unterdrücken, denn der ganze Raum verschwamm vor seinen Augen. Als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, sah er, dass von Pollern und die sechs Männer aus Mähren aufgesprungen waren. Alle schienen bereit, sich auf ein Zeichen von ihm auf die Osmanen zu stürzen, auch wenn sie das vermutlich ihr Leben kosten würde.
Zedlitz hob die Arme abwehrend in beide Richtungen und räusperte sich. »Nur die Ruhe«, brachte er dann heraus, ohne dass seine Stimme zitterte. »Nur die Ruhe. Was wollt ihr?«
Doch der Osmane antwortete nicht. Er gab seinen Leuten ein paar knappe Befehle und wies auf die mährischen Reiter. Er selbst zog Christoph aus der Kammer des Spitals hinaus auf den Hof. Hier stieß er ihn voran, so dass Zedlitz fast das Gleichgewicht
verlor. Die anderen Reiter wurden ebenfalls herausgebracht.
Christoph fasste den offensichtlichen Anführer im Licht der Nachmittagssonne fester ins Auge. Er trug ein ledernes Untergewand, das ihm bis zu den Waden reichte, darüber eine beinahe ebenso lange blaue Weste. Die war so geschnitten, dass sie an den Hüften nach hinten wich und dem Träger optimale Bewegungsfreiheit gab. Darunter ragte der Griff seines Säbels hervor. Am Gürtel war auf der
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