Die Schicksalsleserin
Schatten des Baldachins nur schwer deuten - doch erfreut wirkte der Feldherr nicht. Dann nickte er, während sich der Sultan erhob und in dem Zelt verschwand.
»Christoph Zedlitz von Gersdorff«, sagte Ibrahim Pascha. »Der Beherrscher der Rechtgläubigen lädt Euch ein, mit einer Ehrengarde von zwei Männern als sein Gast zu verweilen. Er wünscht, dass Ihr ihm Gesellschaft leisten werdet.«
Hierbleiben? Christoph sah Tannhardt von Pollern fragend an. Was sollte er nun tun? Dem Sultan seinen Wunsch verweigern?
Tannhardts Blick war müde. »Glaubt nicht etwa, dass das eine Bitte war, oder dass er das ernst meint, dass Ihr ein Gast seid«, murmelte er. »Das war ein Befehl, und Ihr seid weiterhin sein Gefangener. Ich werde auch bleiben.«
»Gibt es unter den Mähren einen, dem Ihr zutraut, dass er die Botschaft des Sultans überbringt?«, fragte Christoph.
Tannhardt besprach sich kurz mit den Männern, wählte einen aus und wies auf die restlichen fünf. »Janos wird bleiben. Die anderen gehen nach Wien zurück. Vratislav hat alles verstanden, er wird das Ultimatum überbringen.«
»Gut.« Christoph holte tief Luft und wandte sich zu Ibrahim Pascha zurück. »Ich nehme die Einladung des Sultans gerne an. Können meine Männer gehen?«
»Sie können gehen.«
Christoph nickte Vratislav zu. »Gott mit Euch.«
»Und Gott mit Euch, Herr Christoph«, gab der Mähre zurück. Dann wandten sie sich wie verabredet in ordentlicher Reihe um und marschierten auf der Straße, die sie gekommen waren, zurück nach Wien. Ein Teil der Bewachung folgte ihnen.
Die übrigen Janitscharen geboten der Dreiergruppe, sich ebenfalls zu entfernen, doch man brachte sie nicht zurück ins Spital, sondern in das Lager des Sultans. Vor einem Zelteingang angekommen, blickte der Bannerträger noch einmal nach Wien hinüber. »Ich schätze, wir werden uns wohl in Geduld üben müssen«, sagte er. »Wenn Ihr Recht habt,Tannhardt, dann sind wir Geiseln für den Frieden.« Damit trat er in den Schatten seiner neuen Unterkunft.
KAPITEL 10
D rei Tage lang waren die Landsknechte Eck von Reischachs vor die Tore gezogen, um die Janitscharen aus den ehemaligen Vorstädten zu vertreiben. Drei Tage lang hatte es dabei geregnet wie aus Kübeln. Die ersten beiden Ausfälle waren kurz und heftig verlaufen und hatten die Elitetruppen des Sultans daran gehindert, sich zu verschanzen. Die große Sorge der Befehlshaber Wiens war, dass man den Feind in den Mauern der Häuser und Türme suchen müsste, die man vor einer knappen Woche versucht hatte abzubrennen. Man hörte, dass die Kriegsknechte die Osmanen überrascht und ihnen empfindliche Verluste beigebracht hatten. Am neunundzwanzigsten Tag des Septembermonats war der Regen dann endlich versiegt. Der dritte Angriff aus den Mauern heraus hatte abgebrochen werden müssen, denn die Janitscharen waren auf ihre Feinde vorbereitet gewesen und hatten sie bereits erwartet.
In der Nacht zum dreißigsten September war der erste Frost gekommen. Mit ihm waren die Osmanen vorgerückt und hatten den Ring rund um die Stadt enger gezogen. Im Südosten hatten sie den Wienfluss überschritten und standen nun vor dem Stubentor. ImWesten hatten die Feinde den ersten Angriff gegen die Mauern der Stadt gewagt und sowohl Werder- und Schottentor mit den angrenzenden Mauern mit Sturmleitern berannt. Lucas hatte nicht viel davon mitbekommen, da er in der Stadt unterwegs gewesen war, um Häuser zu markieren. Wegen der Kälte quartierte man die Soldaten jetzt in die leeren Häuser der Innenstadt ein.
Es mochte der Umschwung des Wetters gewesen sein, der
dafür gesorgt hatte, dass die Osmanen die Angriffe begonnen hatten. Möglicherweise war es auch der Ablauf eines Ultimatums ihres Sultans Süleyman gewesen. Wie man sich erzählte, hatte er Gefangene aus Graf zu Hardeggs Reiterei zurückgeschickt, die die Botschaft überbracht hatten. Angeblich hatte der Herrscher spätestens zu Michaeli sein Frühstück in Wien essen wollen. Dieser Tag war gestern verstrichen, ohne dass der Sultan erschienen wäre. Offenbar war seine Absicht gewesen, die Befehlshaber Wiens allein mit dem Aufmarsch seines gewaltigen Heeres so einzuschüchtern, dass sie ihm ohne Gegenwehr die Tore öffneten. Doch Niklas Graf Salm hatte, wie der Landsknecht Walther Lucas prahlend verkündete, es nicht einmal für nötig befunden, das Ultimatum Süleymans zu beantworten.
Mit dem heutigen Tag war nun der Oktober angebrochen. Lucas hatte in der letzten Nacht die
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