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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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einen Seite eine Halterung samt Kurzbogen angebracht, an der anderen hing ein Köcher mit Pfeilen, der dieselbe Drahtstickerei aufwies wie die Feldflasche, aus der Zedlitz eben getrunken hatte. Der Kopf des Mannes war mit einem weißen Tuch fest umwickelt, aus dem oben ein Büschel herausragte - vielleicht Pferdehaar.
    Im Innenhof des Siechenhauses Sankt Marx hatten sich Osmanen in unterschiedlich farbigen Gewändern zu Gruppen zusammengefunden und sahen mehr oder weniger interessiert zu ihnen herüber. Die Tür der Kapelle gegenüber war aufgebrochen, die Einrichtung samt Markus-Statue und Kruzifix diente den Soldaten als Brennholz. Dem Stand der Sonne nach war der Mittag bereits seit ein, zwei Stunden vorbei. Es regnete nicht, doch der Himmel war bewölkt und der schlammige Hof zeugte davon, dass das Wetter ihnen nur eine kurze Pause ließ.
    Die Leichen sah der Bannerträger erst auf den zweiten Blick. Schlaffe Körper lagen an der entfernten Wand gen Osten. Der Gestank der Verwesung drang herüber und ließ ihn würgen. Zedlitz hatte im Leben noch nie so viele Tote auf einmal gesehen. Einige von ihnen trugen schlichte Kittel, manche teure Kleidung, der Großteil war aber in die Ordenstracht der Lazarener gehüllt, kenntlich am grünen Malteserkreuz. Die meisten schienen durch einen Schnitt an der Kehle gestorben zu
sein. Bevor er sich’s versah, hatte Christoph sich erneut übergeben. Dünne Galle - das Wasser, das er gerade getrunken hatte - kam heraus. Sein Kopf pochte hart unter der Anstrengung. Die Männer im Innenhof lachten kehlig, und aus den Reihen seiner eigenen Leute hörte Christoph einen gemurmelten Fluch. Doch er hatte die Leichen erkannt, die ihnen am nächsten lagen: Albert von Kempff und zwei mährische Reiter.
    Der Leichnam Alberts war nur an seiner Rüstung kenntlich. Die Haut wirkte bleich und wächsern und begann an den Fingern sogar schon, sich abzulösen. Die klaffende Wunde an seinem Hals war von Fliegen und Larven übersät. Die Augen waren von Krähen oder anderem Viehzeugs leer gefressen worden, in den Augenwinkeln lagen ebenfalls kleine weiße Eier. Noch vor wenigen Tagen hatte der Mann in der Blüte seiner Jahre gestanden. Nun verrottete er in einem Hinterhof.
    »Du«, gab der Anführer der kleinen Gruppe von sich. »Kopf ab.«
    Christoph wurde bleich. Diese Barbaren wollten ihn hinrichten. »Ich … Wenn Ihr auch nur ein bisschen Anstand im Leibe habt, habt Ihr mehr Respekt vor Euren Feinden!«, stieß er aus. Doch dann riss er sich zusammen. Er würde nicht um sein Leben flehen. So viel Stolz war ihm noch geblieben. »Lasst mich noch ein Gebet sprechen, bevor …« Er konnte es nicht aussprechen.
    »Nein«, gab der Anführer zurück. »Du machst den Kopf ab, Sklave.« Er wies auf den Leichnam von Albert von Kempff.
    Zedlitz sah fragend zu von Pollern hinüber. Der zuckte mit den Schultern. »Offenbar betrachtet er uns als Eigentum. Und ich glaube, er will, dass Ihr Albert den Kopf ganz vom Leibe trennt.«
    »Das habe ich auch verstanden. Aber warum würde jemand so etwas verlangen?« Das musste ein Sprachproblem sein! Vermutlich
wusste der Türke nicht, was er da sagte. Christoph rührte sich nicht.
    Der Osmane gestikulierte nachdrücklicher und wiederholte: »Du machst den Kopf ab.« Er begleitete das mit einer hackenden Geste seiner Handkante, die keinen Raum für Missverständnisse mehr ließ.
    »Ich kann doch nicht …«, begann Christoph, doch der Türke schritt auf ihn zu, griff ihn neuerlich bei der Kleidung und zog ihn auf den Leichenberg zu. »Du machst den Kopf ab!« Dabei wies er auf eine Holzfälleraxt, die bei einem Haufen Brennholz neben den Leichen in einem großen Hackklotz steckte. Die anderen Osmanen führten auch von Pollern und die mährischen Reiter näher heran.
    Christoph schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht. Albert von Kempff war ein Kampfgefährte. Ich werde seine Ehre nicht dadurch beschmutzen, dass ich ihn jetzt zerhacke wie Schlachtvieh.«
    Der Anführer schimpfte und zog Christoph auf die Knie. Er drückte ihn mit dem Gesicht beinahe in die zerfressene Wunde des Leichnams. Der Bannerträger unterdrückte eine erneute Welle der Übelkeit und verlor beinahe das Bewusstsein.
    »Kopf ab!«, befahl der Mann ihm dann und klopfte auf seinen Krummsäbel. »Sonst Kopf ab, Sklave.« Er ließ keinen Zweifel daran, dass er dieses Mal Zedlitz’ eigenes Haupt meinte. Dann zog er seinen Säbel, um seinem Argument Nachdruck zu verleihen.
    Christoph wurde blass.

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