Die Schiller-Strategie: Die 33 Erfolgsgeheimnisse des Klassikers (German Edition)
Heute begab er sich in höchste Gefahr, aber morgen – morgen wartete die Freiheit auf ihn! Die Freiheit, endlich die Fesseln, die Herzog Karl Eugen seinen Gedanken auferlegen wollte, zu zerreißen; die Freiheit, dem kleinbürgerlichen Stuttgart und der Fron als Regimentsmedikus zu entkommen! Und dann für sein Schreiben zu leben, nichts anderem als seiner Berufung – und das als freier Weltbürger, der keinem Fürsten dient. Welch eine Aussicht! Dafür lohnte die Gefahr, in die er sich begab, die Gefahr für sich selbst und für seinen treuen Freund Andreas Streicher, der ihn auf der Flucht nach Mannheim begleiten würde. Dafür lohnte alles!
Schillers Augen strahlen, als er sich das Leben in Mannheim vorstellt. Seine „Räuber“ haben dort einen beispiellosen Erfolg gefeiert, und ein weltoffenes, begeisterungsfähiges Publikum wartet auf ihn – was will er mehr? Ja, er setzt viel aufs Spiel, gewiss. Er muss seine Eltern und die Geschwister verlassen, ohne zu wissen, ob er sie jemals wiedersehen wird. Wenn die herzoglichen Soldaten die Flucht vereiteln, würde er wie Schubart im Kerker landen, ehrlos, mittellos und ohne Zukunft. Aber er muss es einfach riskieren – zu viel steht auf dem Spiel!
Schillers Blick schweift durch das Zimmer, das er hier in Stuttgart bewohnt. Eine schäbige Bleibe zwar, aber immerhin so etwas wie ein Zuhause. Er seufzt tief – ein Zuhause, das nichts anderes als eine Zwingburg war, konnte niemals das Zuhause eines freien Geistes sein …
Viel kann er nicht mitnehmen in sein neues Leben. Die Kutsche darf nicht auffallen, schon gar nicht dadurch, dass sie vollgestopft ist mit unnützen Dingen. Kleidung, Wäsche und ein paar Bücher hat Streicher schon in seine eigene Wohnung geschafft. Gleich will er noch einmal vorbeischauen, um einen letzten kleinen Koffer zu holen … Schillers Blick wandert an seinem Bücherregal entlang. Dieses Buch musste noch hinein, und dieses …
Und der Klopstock sowieso. Fast andächtig zieht er den in braunes Leder gebundenen Band aus dem Regal und streicht zärtlich mit seinen schlanken Fingern darüber. Nächtelang hat er seinen Klopstock gelesen, alles verschlungen, was der Altmeister geschrieben hatte. Ihm hatte er vielleicht seine erste Inspiration für das Dichten zu verdanken … Schiller kann nicht anders, er muss das Buch aufklappen. Wie von selbst blättern seine Finger durch die Seiten, suchen seine blassblauen Augen die Worte, die ihm so viel bedeuten. Er lässt sich in seinem einzigen alten Sessel nieder und versinkt in den Versen, die ihn noch immer tief in seiner Seele treffen. Was Klopstock da schrieb, war großartig, war einfach genial – aber hatte er tatsächlich recht? Könnte nicht auch …?
Wie ein Schlafwandler taumelnd, das Buch fest an sich gedrückt, befördert Schiller von irgendwoher ein paar Blätter Papier, eine Feder und ein Tintenfass. Er sinkt vor dem Sessel auf den Boden, wirft das Papier schwungvoll auf die längst fadenscheinig gewordene Sitzfläche und beginnt zu schreiben – schnell, mit seinen kühnen, entschlossenen Buchstaben, die jetzt aufs Papier müssen, die jetzt aus seinem übervollen Herzen fließen.
Er hört nicht, wie es wenig später an der Tür klopft und Streicher eintritt. Mit einem Blick hat Streicher die Szene erfasst: Schiller, hingegossen vor seinem alten Sessel – so schrieb er hier immer, denn einen Schreibtisch hatte er nicht –, übermannt von seinen Gedanken und Empfindungen. Der Koffer ist offen, längst nicht alles ist gepackt, nur ein paar Bücher hat Schiller hineingeworfen – und dabei müssen sie doch fort! Die Zeit drängt, die Freiheit wartet auf sie – und Schiller hat alles um sich herum vergessen und ist tief ins Schreiben versunken …
Die Szene ist bezeichnend für den jungen Schiller. Er hat schon viel einstecken müssen in seinem Leben – auf Befehl des Herzogs die frühe Trennung von seinen Eltern, die erbarmungslose Härte in der Karlsschule, die ungeliebte Berufsausbildung, die Auseinandersetzungen mit dem Herzog, letztlich das Schreibverbot. All diese Erfahrungen haben sein Herz gestählt, seinen Mut gefestigt, seine Leidenschaft nur noch stärker zum Glühen gebracht.
Schiller ist ein Mann der Tat. Er tut alles aus Leidenschaft heraus, mit wahrem Feuereifer. Ein Eifer, der seine frühen Stücke so schwungvoll macht, der das Bühnenpublikum begeistert. Nicht umsonst nennt man diese Epoche der Literaturgeschichte „Sturm und Drang“. Aber eines fehlt dem jungen,
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