Die schlafende Armee
seinen dunklen Augen haßerfüllt an. Sie erstarrte. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, wieder glaubte Charity eine beunruhigende, fast menschliche Intelligenz in den nachtschwarzen Augen der Ratte zu erkennen. »Geht weiter!« flüsterte sie. Ihre Stimme zitterte. Obwohl sie sich bemühte, leise zu sprechen, schienen die Worte überlaut durch den Korridor zu hallen und als verzerrte Echos wiederzukehren, vermischt mit den schrillen Pfeif- und Zischlauten der Rattenarmee, die noch immer gegen das gewaltige Amöbenwesen kämpfte. Aber nicht alle Ratten hatten sich an der ungleichen Schlacht beteiligt. Hier und da hockten kleine Gruppen der struppigen Bestien beisammen, in einer sonderbar verwirrten, hilflosen Art, die in Charity das absurde Gefühl auslöste, sie würden sich beraten. Net stieß einen spitzen Schrei aus, als sich eine der Ratten ihr näherte und ihr Bein beschnüffelte; wie ein großer, mißgestalteter Hund. Ihre empfindlichen Barthaare zuckten nervös, und in ihren Augen stand der gleiche, vielleicht noch unentschlossene, aber vorhandene Zorn, den Charity auch in denen der anderen Tiere gelesen hatte. Sie sah, wie Skudder seine Waffe senkte, und hob erschrocken die Hand. »Nicht!« sagte sie. »Nicht schießen!« Skudder begriff. Statt zu schießen, richtete er den Lauf des Lasers nur demonstrativ auf das schäferhundgroße Nagetier - und es konnte kein Zufall mehr sein, daß die Ratte in diesem Moment den Blick hob, ihn einen Moment lang anstarrte, und sich dann langsam und rückwärts kriechend davonmachte. »Bewegt euch ganz vorsichtig!« befahl Charity im Flüsterton. »Und behaltet die Nerven. Ein einziger Schuß - und wir sind alle tot!« Charity schickte ein Stoßgebet zum Himmel, auf daß sie sich nicht täuschte. Aus einem Grund, den sie nicht einmal zu ahnen vermochte, schienen diese mutierten Ratten Menschen nicht als ihre Feinde zu betrachten. Aber was, dachte sie schaudernd, wenn der Kampf gegen die Riesenamöbe ihren Blutdurst einmal geweckt hatte und sie vielleicht das Erbe ihrer primitiveren, räuberischen Vorfahren spürten? Oder wenn sie einfach hungrig waren? Langsam, Schritt für Schritt, zogen sie sich zurück. Charitys Nerven waren bis zum Zerreißen angespannt, und die Gesichter Skudders und der drei anderen glänzten vor Schweiß. Früher oder später, dachte sie, würde einer von ihnen einen Fehler machen. Eine unbedachte Bewegung, ein Stolpern, vielleicht auch nur ein erschrockener Laut - und die Ratten würden sich auf sie stürzen und sie zerreißen, wie sie es mit dem riesigen Monstrum getan hatten. Das mühsame Knirschen uralter Scharniere ließ sie überrascht aufblicken. Plötzlich standen sie vor einer rechteckigen Tür, die von gelbem Licht und zwei gewaltigen, monströsen Gestalten erfüllt war. Sie waren mehr als zwei Meter groß mit silber glänzender Haut, eckigen Köpfen und einem einzigen, goldenen Auge. Charity hatte nicht einmal mehr Zeit, einen erschrockenen Ruf auszustoßen. Einer der Riesen hob den Arm, und das letzte, was Charity bewußt wahrnahm, war ein hellgrüner Blitz und ein unerträglicher Schmerz, der ihr Bewußtsein auslöschte.
Kapitel 5
Das Erwachen war eine Qual. Jede einzelne Zelle in ihrem Körper schien in Flammen zu stehen, und das dumpfe, mühsame Schlagen ihres Herzens schickte vibrierende Schmerzwellen bis in ihre Finger- und Zehenspitzen. Sie wollte die Augen öffnen und konnte es nicht. Aber sie wußte, was sie getroffen hatte. Ein Teil ihres Bewußtseins hatte es noch begriffen, ehe es von der grünen Lichtflut der Schockwaffe aus ihrem Körper herausgeprügelt worden war. Und der erste klare Gedanke, zu dem sie nach einer Weile fähig war, war die Frage, welches Gefühl nun stärker in ihr war: die Überraschung, diese beiden Gestalten hier unten zu erblicken, oder die Verwirrung, daß sie von ihnen angegriffen worden waren. Sie fand keine Antwort auf diese Frage. Immerhin gelang es ihr nach einigen Minuten, die Augen zu öffnen. Sie lag lang ausgestreckt auf einer niedrigen Metallpritsche, die sich in einer winzigen, fast völlig kahlen Kammer aus Beton befand. Unter der Decke gab es eine einfache Lampe, deren nackte Glühbirne von einem rostigen Metallkorb geschützt wurde. Auf der linken Seite der Pritsche entdeckte sie eine ebenfalls rostige Tür. Die Kammer war so klein, daß der verbliebene Platz zwischen der Pritsche und ihr kaum ausreichen konnte, sie völlig zu öffnen. Einer der silbernen Riesen
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