Die schlafende Stadt
bereits bis an die Zahnwurzeln zurückgezogen hatte. Sein glattes, schütteres Haar war stumpf und lag in klebrigen Strähnen an seinem knochigen Schädel an. Einige unregelmäßige Bereiche seines Kopfes waren völlig kahl. Seine Ohren wirkten marmoriert und sahen aus wie Wachs, das jeden Moment brechen konnte. Eigenartigerweise hatte sein Gesicht etwas tief Melancholisches, eine authentische Ehrlichkeit, die Darius sofort Vertrauen einflößte.
„Verzeihen Sie meinen Aufzug“, sagte Erik mit erstaunlich jugendlicher Stimme und deutete auf seine fleckige, verfärbte Kleidung. „Ich verbringe mein ganzes Dasein unter der Erde und brauche daher nicht auf mein Äußeres zu achten.“
„Sie verbringen alle Nächte hier unten?“ fragte Darius erstaunt.
„Gewiss. Ich kenne wohl die Stadt über uns. Finden Sie, dass es hier soviel Unterschied macht zum Dasein dort oben?“ Es klang ein wenig spöttisch.
„Kenne Sie den Weg zu den Verwaltungsgebäuden am Hafen?“ stieß Darius hervor. Sein Ziel schien mit einem Mal näher als erwartet.
„Selbstverständlich. Doch was interessiert Sie denn bloß daran?“
„Ich suche jemanden“, sagte Darius.
Darius war sich inzwischen fast sicher, dass er Uriel und Erik vertrauen konnte. Er dachte sich, dass es wahrlich weniger Aufwandes bedurft hätte, um ihn des Verrates zu überführen. Uriel gehörte offenbar nicht zu Harlans Orden. Und Erik auch nicht, dem Darius nun durch steil absteigende Treppen und Stollen folgte. Immer wieder zweigten Gänge zu den Seiten ab, doch Erik verfolgte sein Ziel mit der Sicherheit eines Wesens, das hier zu Hause war. Nur einmal hielt er kurz inne.
„Hier geht es zur Bibliothek“, raunte er und deutete mit seinem mageren Zeigefinger in Richtung einer Nische, an dessen Wand eine metallene Leiter eingelassen war und die in einen dunklen Schacht unerfindlicher Höhe führte. „Zum Hafen geht es hier hinunter.“ Damit setzte er sich sofort wieder in Bewegung. Ein weiteres Mal hörten sie ein beständiges Rumpeln über ihren Köpfen. „Eine zentrale Postleitung“, ließ Erik Darius wissen. Nach unzähligen Schritten war ein Luftzug zu spüren. Erik führte Darius zu einem runden Fenster. Dort sah man direkt auf die Hafeneinfahrt. Ein einsames Boot mit mehreren zusammengekauerten Gestalten passierte gerade das Meerestor.
„Wir sind fast da“, erklärte Erik. „Für welches der Gebäude interessieren Sie sich am meisten?“
„Ich möchte das Archiv einsehen“, sagte Darius, „wo die Neubürger und Alteinwohner verzeichnet sind.“
Erik stellte keine weiteren Fragen. Er begab sich sofort die nächste Treppe hinunter, die steil in die Tiefe führte und zunächst kein Ende nehmen wollte. Er ignorierte mehrere Türen, die in der Seitenmauer eingelassen waren, und steuerte unbeirrt auf eine weitere Treppe zu. Endlich hielt er in einem hohen, zellenartigen Raum an und deutete auf eine Falltür in beträchtlicher Höhe. Sprossen in der feuchten Wand führten bis dorthin.
„Sie müssen dort hindurch“, erklärte er. „ich weiß nicht genau, wohin diese Falltür führt. Also geben Sie Acht, nicht inmitten einer Versammlung von Beamten aufzutauchen. Ich selbst kenne mich nur aus bis zu diesem Punkt hier.“ Erik sah besorgt aus.
„Sie suchen nach einer Frau, nicht wahr?“
„Ja“, sagte Darius zögerlich.
„Ich dachte es mir. So etwas tut man nur aus diesem Grund.“
Die Falltür, die Darius vorsichtig, unendlich langsam und vorsichtig mit seinem Kopf nach oben drückte, tat keinen Laut. Es war dunkel und niemand war zu sehen. Wohl aber waren in einiger Entfernung Schritte zu hören. Schlurfende, langsame Schritte. Schemenhaft sah er einige übereinandergestapelte Kisten und einen großen Sack, der in einer Ecke lehnte. Vorsichtig senkte er seinen Kopf wieder nach unten und schloss die Falltür.
„Da ist jemand!“ flüsterte er Erik zu.
„Das Klügste wird sein, bis zum Tagesanbruch zu warten“, sagte Erik. „Da werde die Beamten alle in ihren Schlafzellen sein. In ein paar Stunden ist es soweit.“
Darius war voller Unbehagen. Noch nie hatte er vorsätzlich das Gebot des Tagschlafes übertreten. Doch er war nun schon zu weit, um noch umkehren zu wollen – oder zu können?
Erik hatte offenbar nicht die geringsten Bedenken. „Ich halte mich schon lange nicht mehr an Tages- oder Nachtzeiten“, sagte er. „Warum auch? In den Höhlen ist es immer Nacht.“
Darius stieg die Sprossen wieder zu Erik herab. „Können
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