Die schlafende Stadt
Beobachtung. Wenigstens das war beruhigend.
Am Ziel war Darius aber noch immer nicht. Er wurde nervös, weil die Zeit voranschritt. Er sollte machen, dass er wieder in die schützende Dunkelheit der Gänge kam. Doch noch hatte er den mittleren Quader nicht untersucht.
Das Alphabet begann dort wieder von vorne. Darius zog aus der nächstbesten Schublade eine Karte.
Darius verspürte deutliche Lust, auch nach Harlans Karte zu suchen, die er jetzt auch in diesem Block vermuten musste. Er verkniff es sich aber zunächst. Seinen Gang beschleunigend passierte er sämtliche Schrankwände. Nach dem Buchstaben „Z“ folgten noch mehrere Archive ohne Beschriftung, reserviert für kommende Eingänge. Die letzte Schublade, ganz unten über dem Boden, trug die Aufschrift: „Aussortiert“. Darius zog sie neugierig auf.
Sie enthielt nur eine einzige Karte.
Darius biss sich auf die Lippen vor Enttäuschung. Keinerlei Angaben über ihren Aufenthalt! Ob er geheimgehalten werden musste? Was bedeutete „zurückgestellt“, in diesem Zusammenhang?
Andererseits war er beglückt, nun endlich wenigstens eine Andeutung ihrer Existenz zu haben. „Hel“, lautete ihr Name. Ein warmes, zärtliches Gefühl stieg in ihm auf. Liebevoll strich er mit den Fingern über die Karte. Dann steckte er sie in die Brusttasche seines Gehrocks.
Jetzt, da er vorerst nichts weiter tun konnte, wurde er unruhig. Ihm fiel ein, dass er jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Er schloss die Schublade und schlich eiligst auf die Treppe zu. Lautlos erklomm er die Stufen und schlüpfte wieder in den Gang.
Alles war wie zuvor. Still und dunkel war es, niemand war bereits zur Arbeit erschienen. Darius huschte durch den Korridor, glitt die Treppen hinab und beeilte sich, wieder in den Raum mit den Kisten zu gelangen. Vorsichtig öffnete er die Falltür und ließ sich hinab. Seine Füße fanden die Sprossen in der Wand und bald stand er wieder auf dem Boden des hohen zellenartigen Raumes, in den Erik ihn geführt hatte.
Erik erwartete ihn bei der Kreuzung.
„Und? Haben Sie gefunden, wonach Sie suchten?“
„Ja und nein“, sagte Darius. „Und dennoch mehr, als ich erwarten konnte. Ich muss zu Uriel. Es gibt einiges zu besprechen.“
Media in vita in morte sumus.
Notker BALBULUS
A nton Brückner lebte noch immer in seinem Haus am Stadtrand, das sein Vater um die Jahrhundertwende hatte bauen lassen. Viel hatte sein Vater nicht davon gehabt – nicht einmal fünf Jahre hatte er darin gewohnt, bis der Krieg ihn fortnahm. Aber es hätte ihm gefallen, dass sein Sohn hier wohnte und das Haus pflegte. Anton betrachtete versonnen den verschnörkelten Dachgiebel, der in der Abendsonne geradezu verwunschen aussah. Das Dachfenster spiegelte das Sonnenlicht rotgolden wie eine Laterne.
Gefallen hätte seinem Vater auch der Enkelsohn, der sich heute Abend zum Besuch angesagt hatte. Anton hatte bereits eine gute Flasche Wein entkorkt und zum Atmen bereitgestellt. Jetzt pflückte er noch ein paar Birnen vom Spalier, die ersten dieses Jahr.
„Opa!“
Anton fuhr herum. Berthold stand vor ihm und lachte.
„Eigenartig, dass du mich heute zu meinem Vater befragen willst. Er kam mir ausgerechnet heute in den Sinn, als ich an dich dachte.“ Anton nippte an seinem Wein, den er für vorzüglich befand.
„Bin ich ihm womöglich ähnlich?“ Berthold wirkte fast etwas ängstlich.
„Also ... meine Mutter behauptete das. Deine Uroma Sophia. Es war eines der ersten Dinge, die sie sagte, als sie dich in den Armen hielt. Du wirst dich nicht mehr an sie erinnern – sie starb, als du zwei warst.“
„Ich habe noch nie ein Bild von ihm gesehen.“
„Nun, das lässt sich nachholen.“ Anton schlurfte zum Bücherregal und entnahm einen blassgrünen Karton. Er stellte ihn auf den Couchtisch und setzte umständlich seine Brille auf, öffnete ihn, und wühlte darin herum.
„Hier!“
Das Photo zeigte einen ernsten Mann mit dunklen Augen in Uniform.
„Ich glaube, dies ist das letzte Bild, das es von ihm gibt.“
Anton kramte weiter in der Schachtel.
„Das hier ist ein richtiges Starphoto!“
Berthold betrachtete das Bild. Gut sah er aus. Dankwart Brückner mochte erst Anfang zwanzig sein. Er trug einen Frack mit weißer Fliege, und unter den Arm geklemmt seine Geige. Er lächelte forsch in die Kamera, als wolle er dem Betrachter zuzwinkern. Er hatte längeres, dunkles Haar, das ihm bis in den Nacken reichte. „1903“, stand mit Bleistift in der rechten unteren
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