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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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hat er. In gewisser Weise. Dafür hatte er seine Mutter nicht so lange. Heidi starb, wie du weißt, schon 1957. Da war er gerade zehn. Das ist zu früh, um seine Mutter zu verlieren.“

    Berthold war ebenso erschöpft wie angespannt, als er die kleine Kiste öffnete, die ihm sein Großvater anvertraut hatte. Er hatte sich schon früh ins Bett gelegt, obwohl es noch keine elf Uhr war, und hatte es sich gemütlich gemacht. Im Schein der Nachttischlampe durchstöberte er nun die Dokumente, die er vorfand. Vorsichtig öffnete er Schriftstück um Schriftstück, alles Briefe, die von und an Urgroßvater Dankwart geschrieben worden waren.
    Der erste Brief, der ihn von Anfang an fesselte, war einer von Dankwart an Sophia. Berthold hatte etwas Mühe, die altertümliche Sütterlinschrift zu entziffern, fand sich dann aber doch gut zurecht.

    Salzburg, den 18. August 1904

    Meine geliebte Sophia!

    Kaum ein Augenblick vergeht, in der meine Gedanken nicht bei Dir sind, und mir wünschte, ich könnte Dich in den Armen halten! Oft fällt mir das Üben schwer, weil ich nicht so ganz bei der Sache sein kann. Aber was gibt es besseres, als an Dich zu denken?
    Das gestrige Conzert verlief gut, obwohl Lyonel den Husten hat. Wenn es so weitergeht, werde ich bald mehr Geld bekommen! Ich bin sicher, daß dann auch Deine Mutter unserer Hochzeit zustimmen wird. Ich weiß, dass Du Dich auch über sie hinwegsetzen würdest, wie Du ja immer Deinen eigenen Kopf hast. Auch das liebe ich so an Dir. Ich glaube aber dennoch, daß es besser ist, wenn alle einander freundlich gesonnen sind und auch sie zufrieden ist. Ich hoffe auch, daß ich sie bald werde kennenlernen können. Ich bin zuversichtlich, daß sie ihre Meinung über mich ändern wird.
    Einen in der That denkwürdigen Menschen habe ich vor drei Tagen kennengelernt: Gustav Mahler! Er ist in unserem Conzerte gewesen und er kam in unsere Garderobe, um unsere Bekanntschaft zu machen. Er ist leibhaftig wohl freundlich, aber etwas wunderlich, geradezu scheu, und genauso ernst und düster wie seine Musik.
    Liebste Sophia! Ich sehne meine Rückkehr herbei, auf daß ich nicht mehr ohne Dich sein muß! Ich weiß noch gar nicht, wie ich diese drei Wochen noch aushalten soll. Doch es muß wohl sein.

    Ich umarme Dich ganz innig,

    Dein Dankwart

    Der Brief war an eine französische Adresse gerichtet:

    Mlle. Sophia Sommerfeldt, chez M. Émile des Prévenchères.

    Berthold betrachtete das Bild von Sophia. Es stammte von einem Pariser Photographen und trug die Aufschrift „1898“. Demnach musste Sophia auf dem Bild einundzwanzig Jahre alt sein. Berthold konnte nicht umhin, Dankwart beizupflichten: Sie sah wundervoll aus. Dunkle, schwermütige Augen, lange, schimmernde Haare, die sie nicht, wie damals oft üblich, hochgesteckt trug, sondern offen und fast ein wenig wild. Sie sah auf den Betrachter auf eine intensive, geradezu verlangende Art und Weise.
    Die meisten der Briefe waren auf ähnliche Weise abgefasst wie der vorige, alle von anderen Orten abgeschickt. Ab dem Jahre 1904 wechselte die Empfängeradresse nach München in die gemeinsame Wohnung. Ab 1909 waren Dankwarts Briefe an das eigene Haus adressiert, in dem Berthold diesen Tag noch gewesen war.
    Das ockerfarbene Schulheft, das die Kiste noch enthielt, erwies sich als besonders ergiebiges Fundstück. Berthold stellte schnell fest, dass Dankwart es als Kriegstagebuch benutzt hatte. Es war in Bleistift geschrieben, und war erheblich schwerer zu entziffern als die mit Tinte geschriebenen Briefe. Die Schrift war vielfach ausgeblichen, oftmals sehr klein, wohl um Platz zu sparen. Einige Male wirkte sie zerfahren, so wie in höchster Erregung geschrieben.
    Berthold blätterte es interessiert durch. Am Anfang standen die üblichen Standortbeschreibungen, die Truppenbewegungen und der erste Kriegseinsatz. Dankwart beschrieb recht wenig von den Kämpfen selbst, hatte seinem Tagebuch aber vor allem viele persönliche Gedanken anvertraut:

    16. November 1915

    Wir haben unseren ersten Einsatz überstanden, noch leben wir alle. Und doch schlottern mir die Knie, wenn ich nur daran denke. Ich schlafe kaum, und wenn, dann durch Erschöpfung. Erst jetzt haben ich und die meisten Kameraden begriffen, dass wir vielleicht alle sterben werden.
    Es fällt in dieser Zeit schwer, zu begreifen, dass die Italiener, die uns beschießen, Menschen sind wie wir. Ich habe Italien schätzen und lieben gelernt, doch jetzt muß ich Menschen töten, bevor sie dies mit mir

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