Die schlafende Stadt
der Schnee. Dies ist auch sein Tod gewesen.“
„Er wurde also nicht erschossen?“
„Nein, meines Wissens nicht. Er war mit ein paar versprengten Kameraden unterwegs, und hatte versucht, durch den Schnee über einen Gebirgssattel ins Tal nach Sexten zu gelangen. Es war wohl im Januar 1917, die Schneefälle sollen in diesem Winter gewaltig gewesen sein. Dankwart kannte sich als Einheimischer wohl etwas aus, und führte den kleinen Trupp durch die Berge. Er selbst ist kurz vor dem Ziel an Erschöpfung gestorben. Er ist sozusagen erfroren. Hans und Martin Zentschnigg, zwei Überlebende seines Trupps, haben es Sophia erzählt. Sie waren es wohl auch, die ihn noch ins Tal getragen haben. Sie haben stets mit großer Hochachtung von ihm gesprochen.“
„Ich habe gar nicht gewusst, dass er Südtiroler war“, sagte Berthold.
„Oh doch! Er ist in Innichen geboren. Aber letztendlich war er überall zu Hause. Er ist durch weite Teile Europas gereist. Aber wenn du dich so sehr für das alles interessierst ...“
Anton verschwand durch die Tür und Berthold hörte ihn dort geschäftig kramen. Nach einer Weile tauchte er auf mit einem großen, beschlagenen Koffer, der so schwer aussah, dass Berthold sofort aufsprang, um dem alten Mann zur Hand zu gehen. Anton schob ihn entrüstet weg. Was er noch konnte, konnte er auch noch alleine.
„Mit geheimnisvoller Miene öffnete Anton den Koffer und machte eine feierliche Geste.
„Hier findest du viel Material über unsere Familie. Briefe, Photos, Andenken. Hier! Sogar der erste Milchzahn, den du verloren hast, ist dabei!“
Anton hielt triumphierend ein kleines Plastiktöpfchen mit einem winzigen Gegenstand darin in die Höhe. Dann ergriff er ein braunledernes Photoalbum und blätterte darin. Berthold erkannte flüchtig das Hochzeitsphoto von Dankwart und Sophia, sowie mehrere Kinderbilder.
„Schau! Das bin ich mit meiner Mama und meinen Geschwistern. Der Kleine dort bin ich. Papa war da schon drei Jahre tot. Das da ist mein großer Bruder Hermann. Er war auch im zweiten Weltkrieg. Und da ist mein zweiter Bruder August. Der musste gar nicht erst an die Front, so schmächtig und kurzsichtig wie er immer war. Und da ist Schwester Corinna, die noch immer in Hamburg lebt.“
Berthold hing noch an der auffallend schönen Frau auf dem Bild, die seine Urgroßmutter war, da hielt ihm sein Großvater schon das nächste Bild hin:
„Das bin ich in Wehrmachtsuniform. Zweiundzwanzig war ich.“
„Warst du eigentlich in der Partei?“
„Ich? Um Himmels willen! Meine Mutter hasste alles Militärische so sehr, dass wir oft Angst hatten, wir könnten wegen ihrer abfälligen Bemerkungen über Hitler und die ganze Nazi-Brut Ärger bekommen!“
„Oh, ich meinte damit nicht, du könntest Nazi gewesen sein! Ich dachte nur, man musste das damals.“
„Ach was. Aber viele dachten, sie hätten damit weniger Ärger.“
„Und wie war es für dich im Krieg?“
„Ach, es war grauenhaft ... ich hatte so viele Kameraden, viele noch jünger als ich. Viele kamen nie wieder nach Hause. Ich habe sie alle sterben sehen. Und ich hatte sowieso dauernd so eine Angst, auch, weil ich wusste, dass mein Papa im Krieg starb. Außerdem hatte ich eine schreckliche Sehnsucht, denn ich war damals schon verheiratet und wollte allein deshalb überhaupt nicht weg. Drei kleine Kinder waren schon da. Deshalb hatte ich sogar ein mächtig schlechtes Gewissen, obwohl ich für diesen elenden Krieg ja nichts konnte. Aber ich dachte mir immer, was ich den allen antue, wenn ich nicht zurückkomme. Obwohl meine Mutter mir später sagte, eine innere Stimme hätte ihr immer gesagt, dass ich lebe.“
Er holte ein weiteres Bild hervor.
„Dies ist sie. Adelheid, meine Frau. Heidi habe ich sie immer genannt. Deine Oma. Ich hatte das Bild an der Front immer dabei.“
Berthold blickte auf ein kleines, verknicktes Bild von einer jungen Frau mit ungestümer Lockenpracht und tiefen, dunklen Augen.
„Allein deshalb waren diese Kriegsjahre verlorene Jahre meines Lebens. Die Zeit, die ich nicht mit ihr und den Kindern verbringen konnte.
Als ich nach Hause kam, war Sylvia schon acht. Amanda war sieben, Clara wurde sechs. Sie konnten sich gar nicht an mich erinnern. Ida war drei. Ich hatte sie noch nie gesehen. Nur dein Vater Ludwig kam erst nach dem Krieg. Ihn habe ich aufwachsen sehen, die ganze Zeit. Und er kannte sein Leben nur mit mir.“
Berthold versuchte ein Lächeln.
„Da hat er wohl Glück gehabt.“
„Ja, das
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