Die schlafende Stadt
Ecke.
„Schau, ich habe sogar ein Bild von seinem Quartett. Dein Urgroßvater war mal richtig bekannt.“
Es war sogar ein gedrucktes Bild, das offenbar zu Werbezwecken erstellt worden war. Die vier Mitglieder des „Brückner-Quartetts“, standen in lässiger Positur mir ihren Instrumenten. Unter dem Bild die Namen: Lyonel von Meyrinck, Viola, Dankwart Brückner, 1. Violine – Janós Kertesz, Violoncello, – Erich Zann, 2. Violine. Unter dem Photo das Emblem eines Musikverlages in Form eines Raben.
„Le Corbeau“, stand in verschnörkelter Schrift darunter.
„Gibt es Tonaufnahmen von Urgroßvater?“ fragte Berthold erstaunt.
„Die gibt es. Es hat nur noch keinen in der Familie interessiert. Und sie sind heutzutage kaum noch zu bekommen. Aber ich habe welche.“
Er begab sich wiederum in Richtung Bücherregal und tastete die Buchreihen ab. Nach einer ganzen Weile förderte er einen Schuber zutage, in dem sich mehrere Schellackplatten befanden von einem Format, das Berthold noch nie gesehen hatte.
„Ja, ja, noch keine Langspielplattengröße.“
Die Scheiben waren für ihre geringe Größe erstaunlich schwer und relativ dick. Das Label in der Mitte zeigte wiederum den Raben.
„Eine kleine, relativ kurzlebige französische Firma“, erklärte Anton. „Deine Urgroßmutter hat ihre Jugend in Paris verbracht und kannte dort viele Musiker und Verleger.“
Berthold betrachtete andächtig die Schallplatten. Er fürchtet, durch eine unachtsame Bewegung die Schätze zu zerstören, die er in Händen hielt.
„Ich habe vor Jahren schon die Aufnahmen auf Band überspielt“, sagte Anton überraschend. „Nicht, dass an die Originale etwas drankommt.“
„Kann ich sie hören?“
„Aber ja. Sieh doch mal in dem Schrank dort nach.“
Berthold brauchte nicht lange, um sie zu finden. Sein Großvater hatte unzählige Cassetten in dem Schrank, aber er hatte sie alle sorgfältig beschriftet. Berthold entzifferte mit einiger Konzentration die kunstvolle Kalligraphie und suchte die erste, die ihm charakteristisch erschien, heraus. Schnell war sie eingelegt. Unter kräftigem Rauschen und Knistern ertönte der erste Satz aus Dvoráks zwölftem Streichquartett.
Kraftvoll war es gespielt, voller Witz und einer Intensität, der die dumpfe alte Aufnahme nichts anhaben konnte. Berthold lauschte andächtig und klopfenden Herzens.
Über der rhythmischen Begleitung der anderen ertönte zunächst die wundervolle Hauptmelodie durch die Bratsche, dann erhob sich über alle anderen strahlend und voll Dankwarts Violine.
Für Berthold klang es wie eine Stimme aus einer anderen Welt. Es war so, als spräche Dankwart direkt zu ihm.
„Schön, nicht?“
„Sehr schön.“ Berthold sah verstohlen zu seinem Großvater.
Fühlte er es auch?
Nein, er fühlte es nicht. Ihm gefiel nur die Musik. Er hatte seinen Vater bereits gehenlassen und war versöhnt damit. Oder getrennt davon?
Berthold selbst war ergriffen. Tränen rannen ihm über die Wangen, als ob ein lieber, vertrauter Freund dort spielte, der gerade eben gestorben war. Ein Gruß vom Jenseits.
„Was hast du denn?“ Anton war überrascht. „Du musst doch nicht traurig sein! Das ist doch alles lange her!“
„Es macht mich aber traurig“, schluchzte Berthold. „Ich finde es schlimm, dass er so früh gestorben ist. Dass er von seiner Familie wegmusste und nie wieder zurückgekommen ist. Er hätte noch so viele wundervolle Musik machen können!“
„Ja, das ist traurig. Aber sieh doch: Das Leben ist doch weitergegangen. Es ist sogar gut weitergegangen.“
Liebevoll strich der alte Mann über Bertholds Schulter.
„Ich weiß. Du hast sicher Recht.“
Anton musterte den Enkel. Gut sah er aus. Das gleiche markante Gesicht wie das seines eigenen Vaters. Dazu die Entschlossenheit Sophias. Dankwart hätte sicher seine Freude gehabt.
Ein würdiger Spross einer guten Familie.
Noch immer besaß er einen Hauch jener jungendlichen Unschuld, die Anton selbst von sich noch kannte. All die Ideale, die noch enttäuscht werden würden; und dennoch diese überzeugte Entschlossenheit, an Dingen festzuhalten, an die man glaubte. Und vielleicht sogar etwas mehr.
„Wie ist er gestorben?“ fragte Berthold. „Und wo?“
„Nun, er war in den Dolomiten eingesetzt. Als gebürtiger Südtiroler war er natürlich für das österreichische Kaiserreich im Krieg. Er hat den ganzen Krieg offenbar in den Bergen verbracht. Die schlimmsten Entbehrungen waren wohl dort eher die Kälte und
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