Die schlafende Stadt
euphorisch, dass ich an Heidegger zeitweise gar nicht denke. Doch ich werde nichts von dem vergessen, was er hier tut.
Wie sehr fehlen mir meine geliebte Sophia und meine vier Kinder! Meine arme schwangere Frau ist ganz allein mit allem, und ich kann nichts für sie tun. Ja, vielleicht ist das Kind sogar schon zur Welt gekommen! Gebe Gott, dass ich es auch bald sehen kann!
17. August 1917
Endlich ist es wärmer geworden. Schlimmer noch als alles andere ist die Kälte hier oben in den Bergen. Schon jetzt denke ich angstvoll an den bevorstehenden Winter. Seit Wochen schlafe ich aber nun etwas besser, obgleich die Wachen vergangene Nacht dreimal Alarm gaben. Dennoch haben wir seit langem nichts als Ausharren müssen. Unsere Stellung hier in den Felsen gleicht mittlerweile einem kleinen Dorf. Es gibt Höhlen in den Bergen, die mit kilometerlangen Gräben verbunden sind, sowie zahlreichen Häusern und Baracken. Gewaltige Mengen von Kabeln sind gezogen, um die Kommunikation aufrecht zu erhalten.
Hartmut hat noch immer Blut im Urin. Leider haben wir keinen direkten Kontakt zur Truppenführung, so dass an eine Meldung dieses Verbrechers derzeit nicht zu denken ist. Ich befürchte ohnehin, dass derzeit alle an andere Dinge denken, als an Missständen innerhalb eines Bataillons. Womöglich muss dieser Krieg erst ein Ende finden, bevor die Zeit für Leute wie Heidegger gekommen ist.
Ich weiß noch immer nicht so recht, was Heidegger eigentlich will. Er verhält sich seit Tagen ruhig. Vermutlich hat er gemerkt, dass er zu weit gegangen ist. Es ist unwahrscheinlich, dass er Reue empfindet, dessen bin ich sicher. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann er wieder gewalttätig wird. Ausgerechnet zu mir ist er betont freundlich. Er hat mich zu sich in die Stube gebeten und mir ein Glas Wein angeboten. Ich habe es mit Todesverachtung geleert, um den Schein zu wahren. Er lobte meine Tapferkeit und Zuverlässigkeit. Wenn er wüsste, was ich über ihn denke! Aber ich muss vorsichtig sein, ich kann nicht allen trauen. Er kennt Mittel und Wege, unliebsame Soldaten zu beseitigen, wie ich gesehen habe. Er würde mich töten, ganz sicher.
15. Oktober 1917
Wir haben noch immer Befehl, die Stellung zu halten. In unmittelbarer Nähe befindet sich ein Tal, das sich als strategisch wichtig erweisen könnte. Letzte Nacht habe ich dort Wache halten müssen, der Regen strömte. Ich wundere mich, warum ich noch keine Erkältung habe. Die Angst und die Entbehrungen erwecken in mir bisher ungekannte Kräfte.
Martin, unser Nesthäkchen, verhält sich seit einigen Tagen merkwürdig. Er redet kaum noch, und zieht sich zurück. Er nimmt an keinen Gesprächen mehr teil und kauert nur noch auf seiner Pritsche. Selbst Hans, sein Bruder, kommt nicht zu ihm durch.
Nach vielen Wochen habe ich wieder Post bekommen! Mein Herz hüpft vor Freude, als ich lese, dass mein jüngster Sohn zur Welt gekommen ist! Anton hat sie ihn genannt, wie wunderbar! Ich bete dafür, dass er nie das erleben muss, was ich hier erleide.
6. November 1917
Ich weiß es nun, und ich habe es Kurt, Hans und Friedel erzählt, sie werden schweigen. Ich habe es gesehen, weil ich des Nachts nicht schlafen konnte, wegen des quälenden Durchfalles, den ich mir nun durch das verdorbene Fleisch gestern geholt habe. Ich tastete mich durch den Schlafsaal zur Latrine, da hörte ich dieses Wimmern und die barsche Stimme aus Heideggers Stube. Durch den Sprung in der Holztür habe ich alles gesehen, was er mit Martin angestellt hat. Martin lag mit heruntergezogener Hose über dem rohen Holztisch, und Heidegger drang von hinten in ihn ein. Mit der einen Hand hatte er ihn bei den Haaren, mit der anderen hatte er Martins Arm nach hinten gebogen, so dass es aussah, als habe er ihn schon gebrochen. Er schnaufte dabei wie ein Schwein. Martin liefen die Tränen aus seinem ausdruckslosen Gesicht, während er all dies erduldete.
Wir fragen uns, an wievielen Kameraden er Ähnliches verübt hat. Hans hat es unbewegt aufgenommen. Nicht, dass er etwas Unbedachtes tut.
10. November 1917
Wir werden nun doch vielleicht bald kämpfen. Auf italienischer Seite scheinen die Truppen in Bewegung zu sein. Mir ist es inzwischen fast lieber, denn die Stimmung in unserem Hause ist unerträglich. Hans will Heidegger umbringen, und wir können ihn nur mit Mühe davon abbringen. Ich bin mir sicher, ich würde es tun, wüsste ich, dass ein solcher Unmensch dies meinem kleinen Bruder angetan hätte.
Martin will nicht
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