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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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möge Recht haben. Eine schleichende Todesangst drohte sich in ihm auszubreiten, je länger er hinter der Mauer kauerte.
    „Also los, Leute! Duckt euch und schiebt euch durchs Unterholz! Keinen Laut!“
    Die ersten übersprangen die Mauer, der Rest drückte sich aus der Tür ins Freie.
    Plötzlich war da ohrenbetäubender Lärm. Das Knattern einer Stalinorgel durchbrach die trügerische Stille. Anton hörte nur ein röchelndes Geräusch neben sich, etwas warf Konrad nach hinten. Der kleine Konrad. Er schluckte ein paar Mal, zuckte dann noch heftig, obwohl er wahrscheinlich schon tot war. Dort, wo seine Brust gewesen war klaffte nur ein riesiges Loch, sein Blut quoll in wahren Fontänen heraus. Die Fetzen seiner Liebesbriefe an Hannah mussten innerhalb von Sekunden tiefrot gewesen sein.
    Walters Kopf durchschlug eine Kugel, eher er aus der Tür richtig heraus war. Seine wasserblauen Augen sahen plötzlich starr und unverwandt in die Ferne, und sein Hirn war teilweise auf die Hausmauer und den Boden verteilt. Da lag er plötzlich, der, der nie jemanden etwas zuleide hatte tun wollen, und der sich vor allem für sein Brot, seine Mohnschnecken, seine Vanillehörnchen und seine Rosinenwecken interessiert hatte. Anton musste ausgerechnet jetzt an die Milchbrötchen denken, von denen ihm Walter immer so stolz erzählt hatte.
    Zu weiteren Gedanken hatte er ohnehin keine Zeit. Er warf sich auf den feuchten, moorigen Boden, robbte hinter einen Strauch. Grauenhafte Schreie gellten in seinen Ohren und mischten sich mit den Geräuschen von krepierenden Granaten und explodierenden Minen. Ein ohrenbetäubender Knall ließ ihn kurz zögern – dann scheuchte ihn ein gebrüllter Befehl weiter. Jemand heulte und rief nach seiner Mama. Anton rannte weiter, durch die Hölle.
    Ein Meter, zwei Meter – noch immer lief er, noch immer war er unversehrt. Er schlug einen Haken, Eine Kugel pfiff an ihm vorbei, nichts passierte. Dann sah er einen von Eckis riesigen Stiefeln. Ein Stück Unterschenkel steckte noch darin, der Rest von ihm war vermutlich der bis zur Unkenntlichkeit zerfetzte Körper etwa fünf Meter weiter. Ein Gesicht war gar nicht mehr vorhanden, aber der untere Teil mit der mächtigen Kinnlade war noch gut zu erkennen. Er musste auf eine Mine getreten sein.
    Es war plötzlich gar kein Geräusch mehr um Anton, alles schien unendlich langsam, wie in Zeitlupe. Wie im Traum lief er. Er lief und lief. Die Eindrücke des bleigrauen Himmels und der laufenden und fallenden Soldaten verschwammen zu einem Wust aus fahlem Grau und donnernder Stille. Er feuerte sein Gewehr ab, wieder und wieder, ohne genau zielen zu können. Er hielt den Kopf niedrig, daher konnte er nur vage die Mündungsfeuer hinten am Waldrand erkennen. Mit halbem Auge sah er Werner einige Meter vor sich liegen. Eine Granate hatte ihm den Bauch aufgerissen, so dass seine Gedärme herausquollen. Er presste seine Hände dagegen, und sein krampfhaft geöffneter Mund zeigte Anton, dass er schrie. Anton lief weiter. Heidi! Meine Heidi!
    Wieder knallte es. Anton spürte einen mächtigen Schlag, als träfe ihn etwas Schweres. Es war wohl nur die Druckwelle, gefolgt von einem schmerzhaften, harten Schwall von Steinen und Erde. Dann schlug er irgendwo auf. Es fühlte sich aber an, als werde ihm der Schädel eingedrückt, die Seite zertrümmert, der Arm zermatscht. Es tat aber eigenartigerweise gar nicht weh. Ganz kurz dachte er an seine kleine Tochter Sylvia, drei Jahre erst alt, bevor ihn eine tiefe Schwärze umgab.

    Anton war, als hörte er Heidis Stimme ganz nah bei sich. Ein Gefühl der Erleichterung und des Glücks durchströmte ihn. Es war alles gut. Dennoch war ihm, als schliefe er in einer von einer unergründlichen Schwärze umgeben, einem dunklen Etwas, wie tief unter der Erde, was ihn beengte, aber auch schützte. Ein schwacher Schein in unerreichbarer Höhe verband ihn mit dem, wovon die Stimme herkam.
    Nach langem Schlaf schlug er die Augen auf. Anstatt in einer tiefen Grube lag er auf einem Bett. Sein Körper fühlte sich schwer an, und er versuchte eine Bewegung. Sein linker Arm war völlig steif. Lediglich die Finger seiner Hand vermochte er vorsichtig zu bewegen. Dies verursachte ihm einen dumpfen, ziehenden Schmerz, der sich bis in seine Schulter hinauf ausbreitete. Im ungewohnten Licht erkannte er eine graue Bettdecke und stellte fest, dass sein Arm komplett in Gips lag. Er versuchte, etwas zu sagen, doch seine Zunge war schwer, und etwas hielt seinen Kiefer

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