Die schlafende Stadt
Zugriff entzogen. Hier sind Sie sicher.“ Seine Augen hatten etwas Stechendes bekommen, sein Blick bohrte sich förmlich in Darius’ Gesicht.
„Weshalb sollte ich für jemanden gefährlich sein?“ fragte Darius unsicher.
„Oh, das ist sehr einfach. Sie haben eine Eigenschaft, die Sie mit nur wenigen teilen, die hier in der Stadt sind. Sie haben es sich, wie auch immer, bewahrt, zu fühlen . Auf diese Weise nehmen Sie Dinge wahr, die allen anderen verborgen bleiben.“
Grim schob seinen Ärmel zurück und zeigte Darius seine Hand. An jedem Finger steckten mehrere Ringe, und jeder Ring beherbergte einen polierten oder facettierten Stein.
„Sehen Sie.“
Darius betrachtete mit zunehmender Erregung die Steine.
„Die Farbe machte den Anfang. Sehen Sie nur, wie unterschiedlich und wie wundervoll diese Farben sind, die die Natur uns geschenkt hat.“
Darius sah einen feurigen Rubin, daneben einen leuchtenden Türkis, einen strahlenden, goldenen Bernstein. Ein Diamant funkelte daneben, kontrastiert von einem gestreiften grünen Malachit und einer rosafarbenen Koralle. Ein mystisch weiß-bläulich schimmernder Mondstein war neben einem tiefblauen Lapislazuli zu sehen, und ein roter Granat wetteiferte mit einem violetten Amethyst. Ein dunkelgrüner Smaragd war dort, und ein geheimnisvoller Opal hinterließ seine Aura.
„Dies ist alles gar nichts im Vergleich zu jenen grünen Augen, die Sie sahen, damals, durch Ihr Teleskop, nicht wahr?“
Fast zärtlich strich Grim über die kunstvoll gefassten Steine.
„Es gibt keine Farben in der Stadt. Vielleicht ist Ihnen dieser Umstand nie so recht klar gewesen. Farbe bringt die Seele zum Fühlen. Fühlen macht lebendig und aufmerksam. Und dies ist der Beginn der Eigenständigkeit. Das wollen jene nicht. Es gefährdet die Macht.“
Grim hob seinen Becher in Mundhöhe ohne zu trinken. Er tat einen tiefen Atemzug.
„Es gibt auch keinen Duft dort. Keinen Geschmack. Und natürlich auch keinen Klang, keine Musik. Spielen Sie ein Instrument?“
Ehe Darius dies verneinen konnte brachte Uriel einen länglichen Kasten und öffnete ihn. Eine Violine lag darin.
Uriel reichte Darius das Instrument, spannte den Bogen und übergab auch ihn. „Spielen Sie!“ sagte er sanft. „Bitte!“
Grims Eindringlichkeit machte eher einen Befehl als eine Bitte. Darius erhob sich. Er zitterte. Ein fragender Blick auf Grim - der nickte ermunternd. Nein, kein Wenn und Aber. Die kleine Schar der Anwesenden trat aus dem Dunkel und gruppierte sich in einer Nische, um sich erwartungsvoll dort niederzulassen. Dann wurde es still. Darius war mit einem Mal ruhig. Er setzte die Geige an, als habe er nie etwas anderes gemacht. Ganz vertraut war die Bewegung, die Haltung, der Ablauf. Ein kurzer, elektrisch geladener Moment des Innehaltens - er hob den Bogen, setzt ihn auf die Saiten.
Einen Augenblick verharrte der Bogen noch.
Dann erklang es.
Ein temperamentvoller Akkord. Auftakt – dann ein weiterer kraftvoll akzentuierter Mehrklang. Die Akkorde formten sich zu einer musikalischen Figur, die überging in die vertraute, virtuose Melodie, die der sich immer mehr zu erkennen gebende Rhythmus weiter vorantrieb. Immer weiter spann es sich, brillierte in den Höhen, brodelte in den Tiefen. Eine einzige Violine war es, und doch war es das Brausen des Windes, der Gesang des Himmels und der Sterne, das sich wie ein ganzes Orchester in den verwunschenen Klängen von Darius’ Spiel offenbarte. Mal klagte die Geige, mal jagte der Bogen in kühnen Sprüngen, mal in stampfenden Schritten über die Saiten. Rauschhaft und ungebremst tanzten Darius’ Finger über das Griffbrett, eilte die Hand am Violinenhals hinauf und hinunter, immer neue, ungeahnte Metamorphosen durchlebte das Hauptmotiv, mal sanfter, mal wild, einmal ekstatisch, ein weiteres mal lyrisch, bis dass der Bogen endlich über kurzes Ritardando über einem lichten Unisono das Musikstück beendete.
Erst langsam, nach einer Weile, setzte Darius die Violine ab.
Er erwachte langsam, wie aus einem Traum. Das Publikum war still. Nicht ein Atemzug war zu hören.
Dann klatschte das erste Händepaar und eröffnete den anhaltenden Beifall. Das ganze Gewölbe hallte vor andächtiger Begeisterung.
Darius war es, als schwebte er. Noch begriff er nicht vollständig, was gerade geschehen war. Er legte die Geige behutsam in den Kasten zurück und betrachtete sie scheu, als habe sie sich seiner bemächtigt, und nicht, dass er etwa den Bogen geführt
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