Die schlafende Stadt
nach kurzem Innehalten, „von solchen Dingen wissen Sie erst wenig. Oder richtiger formuliert: Sie wissen nicht mehr viel.“
Eine der schwarzgewandeten Gestalten löste sich aus dem Dunkel des Hintergrundes und stellte ein Tablett mit einem Krug und zwei Bechern auf den Tisch.
„Danke, Franz“, sagte Grim, und ließ sich wieder auf seinem kunstvoll geschnitzten Thron nieder. „Für unseren Gast zuerst.“
Franz schenkte die Becher voll mit einer dunkelroten Flüssigkeit und reichte Darius einen davon. Grim erhob seinen Becher und prostete Darius zu.
„Auf das Leben und seine Erinnerungen!“
Darius verstand den Trinkspruch nicht, führte aber den Becher zum Mund. Das Getränk duftete nach schwerer Süße und herber Leichtigkeit, gleichzeitig, nach sommerlicher Frucht und erhabener Eleganz. Er trank einen Schluck. Das fruchtige, intensive Aroma erfüllte seine ganze Mundhöhle und rann wie Öl durch seine Kehle. Sofort durchströmten ihn eine wohltuende Wärme und eine eigenartige, lebendige Aufregung. Sein Herz begann zu klopfen.
„Wunderbar, nicht wahr?“
Grim zeigte ein geradezu lausbübisches Lächeln und schnalzte mit der Zunge.
„Wissen Sie, was das ist?“
Darius’ fragender Blick ließ ihn fortfahren.
„Wein!“ sagte Grim langsam und bedeutungsvoll. „Das ist Wein! Roter, dunkler, alter Wein!“
Er machte eine kurze Pause und gab Darius die Gelegenheit für einen weiteren vorsichtigen Schluck.
„Genießen Sie jeden Schluck. In ihm verdichtet sich fast alles, was wir hier entbehren müssen. Farbe, Duft, Geschmack, Konsistenz.“
Darius Blick fiel auf seine Hände. Das sonst so Fahle, Elfenbeinerne seiner Haut war einem schwach rosigen Farbton gewichen. Plötzlich erkannte er, wie warm und golden die Kerzenflammen schimmerten. Die brütende Schwere seines Geistes war verschwunden.
„Ich schulde Ihnen eine Erklärung“, sprach Grim weiter. „Oder vielleicht gibt es ein paar konkrete Fragen, die Sie mir stellen möchten?“
Darius spürte eine seltsame Mischung aus einem Glücksgefühl und Angst. Außerdem meldete sich ein anderer Teil in ihm, ein ärgerlicher Teil, der sich an die merkwürdigen Umstände seiner Anwesenheit hier erinnerte und dagegen entschieden protestierte. Grims Art erschien ihm trotz aller Freundlichkeit reichlich selbstgefällig.
„Sie sehen furchtbar aus“, sagte er plötzlich zu Grim. Sofort bereute er seine Worte. Obwohl es stimmte. Grim sah krank, blass und geradezu mumienhaft eingefallen aus. Nur seine strahlenden Augen und seine weißen Zähne sprachen dagegen.
„Tatsächlich?“
Grim wirkte eher belustigt als beleidigt. „Nun, das ist schon möglich. Wir wirken womöglich alle ein wenig ... lädiert .“ Ein verhaltenes Gelächter ertönte aus dem Hintergrund.
„Es tut mir leid ...“, begann Darius, aber Grim kam ihm zuvor.
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Es stimmt ja, was Sie sagen. Nur: Sie gehören auch dazu, zu unserer Familie. Dafür sehen Sie allerdings erstaunlich gut aus.“
Grim wartete genießerisch die Wirkung ab, die seine Worte hinterließen.
„Wo bin ich hier? Warum bin ich hier?“ fragte Darius endlich. Er fühlte sich jetzt vollkommen klar und geordnet, jedenfalls soweit die Umstände es zuließen.
„Ich werde Ihre zweite Frage zuerst beantworten“, sagte Grim. „Ich möchte Ihnen versichern, dass Ihnen hier nichts geschieht. Es ist im Gegenteil sogar so, dass Sie zu Ihrem eigenen Schutz hier sind.“
Er blickte jetzt ganz ernst.
„Sie haben in letzter Zeit ja bemerkt, dass das Dasein in der Stadt, nun, sagen wir: nicht ganz ungefährlich ist.“
Darius dachte an die schwarzen Gestalten mit den schimmernden Visieren.
„Genau.“
Grim hatte seine Gedanken offenbar erraten.
„Doch waren die schon lange da. Sie sitzen überall, beobachten und überwachen. Und handeln, wie Sie sich überzeugen konnten.“
Grim blickte in die Ferne. Sein Gesicht wirkte jetzt hart und grimmig.
„Die menschliche Seele bleibt doch immer gleich, im Leben wie im Tod.“
Er nahm einen Schluck aus seinem Becher.
„Und selbst nach dem Tod ist es die Angst, die die einen verschüchtert und verstört, die anderen zu Macht und Unterdrückung verführt. Nichts macht die Seele so gefügig und kindlich wie die Furcht. Nichts berauscht so sehr wie die Macht. Besonnen bleiben die wenigsten. Und die, die es sind, werden zur Gefahr für die Herrschenden, die sich die Angst der anderen zunutze machen. Deshalb haben wir Sie ihrem
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