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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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zurück. Er bemerkte, dass es eine blutverkrustete Mullbinde war, die um sein Gesicht gewickelt war, die schmerzhaft scheuerte.
    „Psst! Nicht sprechen!“ sagte eine sanfte weibliche Stimme. „Es ist alles in Ordnung.“
    Anton sah verschwommen in ein Gesicht, das mit einer weißen Haube umgeben war. Sanfte Hände deckten ihn zu.
    „Für Sie ist der Krieg vorbei.“
    Der Krieg!
    Plötzlich wurde Anton kalt. Ein Grauen des Todes packte ihn. Er atmete schwer.
    „Sie sind in Sicherheit. Sie werden wieder gesund. Bald kommen Sie nach Hause.“
    Nach Hause! Jetzt erinnerte er sich, wie sehr er sich danach gesehnt hatte. Nach Hause zu Heidi, zu seinen süßen Kindern. Zu seiner Mutter Sophia.
    Dann dachte er an Walter und dessen tote, blassblaue Augen. Walter mit den Milchbrötchen. An den kleinen Konrad, der seine Hannah nie hatte wieder sehen dürfen. An Ecki und seine großen Stiefel.
    Seine Augen füllten sich mit Tränen. Anton weinte lautlos, er fühlte das Wasser seine Wangen hinabrinnen. Eine Träne lief ihm ins Ohr, er wandte den Kopf. Eine andere Träne rann bis zu seinem Mund. Sie war noch etwas warm und schmeckte nach Salz.
    Antons Umgebung verschwamm vor seinen Augen, obgleich er fühlte, dass sein Geist klarer wurde. Einige Gesichter tauchten aus dem Dunkel seiner Seele auf. Sie waren alle tot, Walter, Ecki, Konrad, Werner und so viele andere. War es recht, dass ausgerechnet Anton jetzt hier war?
    Es war etwas in den Tränen. Ein mildes Licht war darin, das seine Traurigkeit tröstete. Sie spülten etwas aus ihm hinaus, wuschen etwas hinweg, flossen mit dem Strom seines Lebens, in den er wieder zurückgekehrt war.
    In Gedanken hörte er Sophia, spürte ihre liebevolle Umarmung.
    „Ich danke Gott, dass er mir dich wiedergebracht hat“, sagte sie. „Ein zweites Mal hätte ich es nicht ertragen.“
    „Ich komme nach Hause, Mama“, flüsterte Anton. Er lächelte. „Ich habe es versprochen!“

Nichts ist so verborgen,
dass man es nicht erfahren kann,
oder so geheim,
dass es nicht ans Tageslicht kommt.
Sprecht im Licht der Sonne von dem,
was ich Euch beim Schein des Mondes sage,
und das, was man euch ins Ohr flüstert,
sollt ihr laut von den Hausdächern verkünden.
    JESUS VON NAZARETH

    „ W illkommen, willkommen! “
    Die Stimme kam aus unmittelbarer Nähe, doch Darius brauchte eine Weile, bis dass die dunklen Flecken vor seinen Augen sich auflösten und sein Blick sich klärte. Seine beiden Begleiter hatten ihren Griff gelöst und waren beiseite getreten. Darius registrierte nur peripher das wuchtige, romanische Gewölbe mit den ungeheuer dicken, runden Säulen, in dem er sich jetzt wiederfand. Sein Blick ging nach vorne zu der kleinen, befrackten Gestalt, die hinter einem klobigen, speckigen alten Holztisch thronte und sich nun erhob.
    „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Darius. Man hat mit schon viel von Ihnen erzählt.“
    Die unzähligen flackernden Kerzen, die den Raum warm und heimelig erleuchteten, zeigten Darius die sich nun nähernde Gestalt als alten, kahlköpfigen Mann. Sein Gesicht war von unzähligen Falten durchzogen, und seine blasse Haut war voller großflächiger, brauner Flecken. Wie eine alte Krähe sah er aus.
    „Mein Name ist Grim“, sagte er und entblößte beim Lächeln einige erstaunlich weiße Zähne. „Bitte verzeihen Sie die etwas unsanfte Behandlung, die Uriel und Raphael Ihnen angedeihen ließen. Aber Sie werden zugeben: freiwillig wären Sie womöglich nicht mitgekommen. Es ist aber von großer Wichtigkeit, dass Sie hier sind.“
    Grim reichte Darius die Hand. Eine warme, kraftvolle Hand. Seine leuchtend blauen Augen blickten eindringlich, aber keineswegs unfreundlich.
    „Kommen Sie und setzen Sie sich“. Eine einladende Handbewegung wies zu dem Tisch.
    Darius ging mit ihm auf den glatten, ausgetretenen, rötlichen Steinfliesen zu dem Stuhl, der für ihn offenbar bereitgestellt war. Porphyr! meldete ihm eine innere Stimme . Gleichzeitig fragte er sich, woher er dieses Gestein kennen mochte.
    „Dass Ihre beiden Begleiter die Namen zweier Erzengel tragen, ist übrigens mehr oder minder zufällig“, erklärte Grim und schien dies als Scherz verstanden wissen zu wollen. Dieser blieb Darius aber vollständig verborgen. Irritiert musterte er den Alten. „Ich hätte ebenso gut Aram oder Jean-Claude schicken können“, fügte Grim erklärend hinzu.
    Darius’ Gesicht zeigte nichts als Verständnislosigkeit. Grims Augen blickten amüsiert.
    „Ich vergaß“, sagte er

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