Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
Vom Netzwerk:
stöhnen. Seine Hände schoben sich unter ihre runden Hinterbacken und pressten ihren Körper noch näher an den seinen. Leidenschaftlich küsste er die geliebten Lippen.
    Da öffnete sie ihre Augen und sah ihn an. Dunkelbraune, klare Augen. Tief und vertraut.
    Sie schlang ihre Arme um ihn. „Wie ist dein Name?“ flüsterte sie.
    „Darius!“ antworte er. „Mein Name ist Darius.“
    Sie lächelte. „Bleib bei mir, Darius. Geh nie wieder weg von mir.“
    „Nein!“ flüsterte Darius. „Aber du musst mich festhalten.“

    Doch dies war bereits wie ein Hauch aus der Ferne. Darius verging. Er löste sich auf. Erhob sich wie ein Nebel über einer Landschaft – und verwehte.

Tue was du willst!
Dies sei das einzige Gesetz.
    Aleister CROWLEY

    E s war jedes Mal die gleiche leichte Erregung, trotz der vielen Male, die er jene Worte gesprochen hatte, jene Worte, die das Leben eines Menschen für immer beenden würden. Und doch erregte ihn noch immer das Gefühl, diese Macht zu haben, über Schicksal und Leben anderer Menschen bestimmen zu können.
    Wie Gott.
    Genießerisch fixierte er den totenblassen jungen Mann mit dem unrasierten Kinn und dem verfilzten braunen Haar. Stinkend, dreckig, widerwärtig. Die Kleidung starr vor Schmutz und Schweiß.
    Abschaum. Nicht wert, weiterhin sein Dasein zu fristen.
    Ob er nun jenen Pfaffen tatsächlich gemordet hat oder nicht, was machte das schon? Früher oder später täte er sowieso etwas Ähnliches. Er, der Gerechte, werde das seinige nun dazu beitragen, dass dieses Ungeziefer vertilgt werde. Schon beim ersten Anblick dieses abstoßenden Etwas hatte er gewusst, dass es sterben sollte.
    Seine Mundwinkel zogen sich zu einem trügerisch milde wirkenden Lächeln. Wie nebenbei strich er über die wallenden Locken seiner Perücke.
    „Wir befinden den Angeklagten Hans Vischer für schuldig wegen heimtückischen Mordes an dem hochwürdigen Dekan Auweyler. Daher verurteilen wir ihn zum Tode. Es soll aufgehangen werden an seinem Hals bis dass der Tod eintritt. Das Urteil wird binnen drei Tagen vollstreckt. Gott sei Ihrer Seele gnädig.“
    Aufmerksam beobachtete er die Wirkung. Waren es Tränen, mit denen sich die Augen dieser nichtswürdigen Kreatur füllten? Tränen der Angst, Tränen des Zornes? War das ein Zittern um die bleichen Lippen? Waren da Tropfen kalten Schweißes auf der Stirn?
    Der blasse junge Mann versuchte offenbar, etwas zu sagen, doch er bewegte nur ein paar Mal die Lippen, ohne dass sich ein Wort von ihnen löste. Er schien noch gar nicht zu begreifen, was die eben gesprochen Worte wirklich bedeuteten. Nun, es würde ihm im Schatten des Galgens schon zu Bewusstsein kommen. Wie eine giftige Pflanze würde es in ihm wachsen, ihn peinigen und quälen, dieses Erkennen, dass bald sein Dasein für immer vorbei sein würde, unterbrochen lediglich durch den Schlaf der Erschöpfung.
    Der Delinquent wurde gepackt und abgeführt. Wild riss er seinen Kopf herum, und heftete seine Augen auf den Richter. Da war sie, die Angst, das Grauen des Todes. Die geweiteten Augen, der sprachlose Mund, die panisch verkrampften Gliedmaßen.
    Damit war Richter Heideggers Seele befriedigt.
    Nun hatte er Wichtigeres zu tun. Hungrig war er, und neben einigen Auspeitschungen und Prügelstrafen war dies heute der vierte gewesen, den er an den Galgen gebracht hatte. Mühsam wuchtete er seinen massigen Körper von seinem Stuhl und verließ würdevoll das Katheder. Dann begab er sich in die Amtsstube. Dort ließ er sich die schwarze Robe abnehmen und seinen Mantel, seine Stock und seinen Dreispitz bringen. Er verlangte nach einem Becher Wein, den er in einem Zug leerte. Bereits halb im Gehen unterzeichnete er die Urteile dieses Nachmittages, die der Gerichtsdiener ihm demütig darreichte, bürokratische Formalitäten, die ihm lästig waren. Seine Arbeit war getan, den Rest besorgten die Henker. Selbst den Namen des zuletzt Verurteilten hatte er bereits vergessen, wenn er ihn überhaupt je wirklich zur Kenntnis genommen hatte.
    Ein kühler Wind wehte an jenem Oktobertag im Jahre 1697. Zeit, die warme Stube aufzusuchen und sich vorzubereiten auf das Abendessen, zu dem er heute geladen war. Die Gedanken an gebratene Lammkeule, goldene Fleischsuppe, schäumendes Braunbier und knuspriges Brot ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. Behaglich nahm er in seiner Kutsche Platz.

    „Ich möchte noch anmerken, dass das neue Mädchen eingetroffen ist, gnädiger Herr!“
    Richter Heideggers Wanst war schwer

Weitere Kostenlose Bücher