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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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ohne zu Zögern alles an sich rissen, besudelten, vernichteten? Wer wagte es, seine Entscheidungen in Frage zu stellen, sich gar zu entrüsten? Wenn jemand in der Lage war, einen Tatbestand einzuschätzen, dann er, der Richter! Sterben sollen sie, all die, die sich erdreisteten, die Ordnung nach eigenem Gutdünkten zu durchbrechen, all jener Unrat, der Abschaum der Gesellschaft! Sie widerten ihn an, all die blassen, ausgezehrten Gesichter, die großen, angstvollen Augen, die die Privilegierten doch nur anklagten, mit ihren ungewaschenen, zerlumpten, mottenzerfressenen Kleidern, den elenden, verfilzten Haaren, starr vor Schmutz. Spucken würde er auf diese Kadaver, diese Pest um ihn herum. Die Welt musste gereinigt werden von jeglicher Fäulnis, von eiterndem Geschwür.
    Befriedigt beendete er seinen Tag. Er leerte seinen üblichen Kelch mit Wein. Das tat wohl angesichts des ekelerregenden Ungeziefers, mit dem er täglich konfrontiert war.
    Als er aus seiner Amtsstube trat, wartete dort jemand. Ein elegant gekleideter Herr von vornehmem Äußeren, etwa fünfzig Jahre alt. Er wirkte schlank und drahtig, den reich verzierten Gehstock fest gegriffen, den Dreispitz lüftend. Er machte eine achtungsvolle Verbeugung.
    Offenkundig wollte er zu ihm. Der Richter fixierte ihn misstrauisch.
    „Verzeiht, Euer Ehren, meine Dreistigkeit. Mein Eindringen hier erschien mir als die einzige Möglichkeit, Euch schnellstmöglich zu treffen. Ich erbitte nur einen kurzen Augenblick Euerer wertvollen Zeit.“
    Heidegger gefiel die respektvolle Haltung, daher hielt er sich mit der üblichen Abweisung zunächst einmal zurück.
    „Mein Name ist Wegener, Weinhändler aus Oberfranken. Ich komme für Leumund eines meiner treuesten Bediensteten, dessen Sohn Ihr vorgestern vor Euch hattet.“
    Der Fremde sprach ernst und ruhig. „Ihr verurteiltet ihn zum Tode. Hans Vischer ist sein Name. Ich war deswegen gestern schon einmal hier, traf Euch aber nicht an.“
    „Und?“
    „Ich war bei dem Prozess zugegen. Ich bin sicher, dass Ihr einige Fakten außer Acht gelassen habt. Der Junge ist unschuldig.“
    „Was für Fakten sollten dies denn sein?“
    „Die Tatsache, dass er zur Tatzeit in meinem Hause war, um meinen Wagen zu richten. Ich selbst kann davon Kunde geben.“
    „Dies kommt zu spät.“
    „Aber warum? Ich war bereit, dies zu bezeugen. Ihr hattet das Urteil aber schon gefällt, bevor ich gehört werden konnte.“
    Ein Fehler! Er wagte es, ihm einen Fehler vorzuhalten!
    „Dies war nicht nötig.“
    „Aber ja! Es ist sogar ganz entscheidend! Der Junge kann gar nicht ...“
    „Werter Herr Wegener, was erlauben Sie sich?“ sagte Heidegger. „Meine Erfahrung und meine sorgfältige Analyse ließen kein anders Urteil zu. Ich bin selbst nur ein Diener der Rechtsprechung.“
    „Euer Ehren!“ rief der Fremde jetzt heftig, „Sie haben willkürlich eine wichtige Aussage ignoriert! Dies muss berichtigt werden!“
    „Ich habe vor allem wichtige Aussagen zur Kenntnis genommen. Die Ihre ist nicht die Einzige. Das Urteil ist richtig“, sagte Heidegger kalt. „Das Recht nimmt seinen Lauf.“
    Damit wandte er sich ab und ließ den Fremden stehen. Doch der ließ sich nicht abschütteln und lief ihm hinterher.
    „Euer Ehren, ich verstehe Eure Situation. Doch wie viel Größe liegt doch darin, ein Urteil zu revidieren! Eure Größe ist stadtbekannt! Daher wende ich mich ja an Euch!“
    Er fügte flüsternd hinzu: „Es soll nicht zu Eurem Schaden sein! Ich nenne mich den Verkäufer des besten Weines der Region!“
    „Beweist es!“
    Der Fremde holte tief Luft.
    „Noch heute Abend werde ich Euch eine Kiste mit einer Auswahl meiner besten Kreszenzen senden! Doch das Urteil muss schnell revidiert werden! Morgen soll es vollstreckt werden!“
    „Eines nach dem anderen“, erwiderte Heidegger.

    Der Wein war tatsächlich vorzüglich. Richter Heidegger hatte die erste Flasche gleich öffnen lassen und genoss den ersten Schluck. Was ein Hans Vischer so wert war! Somit hatte er wenigstens einmal in seinem jämmerlichen Leben etwas Sinnvolles bewirkt. Er musste lachen, da er nicht im Traum daran dachte, ein gefälltes Urteil nochmals zu verändern.
    Die zweite Flasche war fast noch besser. Er begann ernsthaft zu überlegen, ob er sich mit einer Revision nicht noch einen Vorrat davon sichern sollte. Doch nein! Ein Heinrich Theodor Heidegger nahm niemals etwas zurück! Die Welt hatte sich nach ihm zu richten!
    Berauscht vom guten Tropfen fiel ihm das

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