Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
Vom Netzwerk:
Stelldichein gaben. Reich und üppig eingerichtet war es auch sonst, dunkle alte Holzmöbel, Schränke und Vitrinen, die mit Blumen und Früchten filigran verziert waren, an den Wänden Gobelins und Ölgemälde in breiten, vergoldeten Rahmen. Schwere Vorhänge, die bei Tag ein tiefes Rubinrot haben mochten, warfen ihre weiten, samtigen Falten vor den großen, fast deckenhohen, geschwungenen Jugendstil-Fenstern. Die Vorhänge waren halb zurückgezogen und ließen das Mondlicht sich auf die orientalischen Teppiche und den schimmernden Boden aus poliertem Kalkstein ergießen. Die Schatten der hüfthohen schmiedeeisernen Fenstergitter zauberten blumige Muster auf den Fußboden, und die zarten Gardinen wehten leicht in dem von draußen einströmendem warmen Hauch. Es war sommerlich warm, der bittere Geruch des alten Holzes vermischte sich mit dem Duft von Pfirsichblüten und Mandarinenschalen. Darius ging noch einen Schritt vor. Die ungewöhnliche Vielfalt von Eindrücken hatte ihn ganz entrückt. Wohin er auch sah, seine Augen mussten immer weiter wandern, als verwehre ihm das Verharren auf das eine den Blick auf alles andere, das noch zu entdecken war. Andächtig und unendlich vorsichtig berührte er das glatte, lackierte Holz eines kleinen Sekretärs, die feine Struktur des Gobelins an der Wand, den Samtstoff der Vorhänge, den Lederbezug eines Sessels. Auf einem kleinen runden Tisch stand eine flache Schale in Gestalt einer Muschel, angefüllt mit dunklen, kugeligen Knospen. Darius nahm einige von ihnen zwischen Daumen und Zeigefinger. Fest und trocken fühlten sie sich an, und indem er sie zerrieb, gaben sie einen aromatischen, intensiven Duft ab. Lavendel! Bilder von violett leuchtenden Sträuchern in strahlendem Sonnenlicht und im Schatten von Birken und Zypressen tauchten aus unendlicher Ferne auf. Ein grober, großer Holztisch im Schatten von Bäumen, gedeckt mit Platten mit frischem, knusprigem Brot, schneeweißer Butter, würzigem Käse und rauchiger Wurst, Krügen von dunklem, kräftigem Wein, Schüsseln mit dampfenden Kartoffeln, Bohnen und Linsen, Schalen voller Aprikosen, Feigen, Oliven und Mandeln. Menschen mit lachenden Gesichtern und blitzenden Augen - Erinnerungen? Woher? Darius’ ganzer Körper war von euphorischer Spannung erfüllt, von prickelnder Lebenslust, die sich seiner bemächtigte, der er wehrlos ausgeliefert schien, aber nach der seine Seele geradezu gierte.
    Dann fiel sein Blick auf die schlafende Frau.
    Sie lag regungslos auf der Seite, auf einer zum Schlafen hergerichteten Couch, die nackten Oberarme hielten das silbrige Laken umklammert, unter dem sie sich zusammengerollt hatte, die Beine leicht angewinkelt. Ihr Atem ging so unmerklich, dass sie wie ein Teil der Möbel und Gegenstände im Raum kaum wirkte. Darius fixierte sie minutenlang. Sie schien um die dreißig Jahre alt zu sein. Das rötliche, lockige Haar fiel ihr teilweise über das Gesicht. Trotz der vollen Lippen hatten ihre Züge etwas hartes, die Mundwinkel waren leicht heruntergezogen, und zwischen den Augenbrauen hatte sich eine senkrechte Falte eingegraben. Der große Oberkiefer legte Assoziationen zu einem Pferdegesicht nahe; die lange, durch einen Buckel noch größer wirkende Nase war von mehreren Sommersprossen bedeckt, die tagsüber von einer dicken Schicht Puder bedeckt sein dürften. Die mehrfach durchstochenen Ohrläppchen verrieten das Tragen von schweren Ohrgehängen, die sich zweifellos gut zu dem langen, aristokratischen Hals machten. Die Hände waren für eine Frau recht groß und nahmen den vornehmen Eindruck größtenteils wieder weg. Darius näherte sich ihrem Gesicht, bis der leise Luftzug ihres Atems spürbar wurde. Neugierig schnupperte er an ihrem Nacken. Es roch schwer und süßlich.
    Nicht ganz sein Geschmack.
    Er bewegte seine Nase etwas tiefer, zu ihrer Schulter, dann nah an ihre Achselhöhle. Die Reste des süßlichen Parfums mischten sich hier mit dem Geruch von Schweiß und Nikotin. Dann begann bereits das Bettlaken und verbarg weitere Einsichten. Darius’ Interesse hatte aber bereits nachgelassen. Eine Spur zu vulgär, um ihn wirklich zu fesseln. Er spähte bereits nach neuen Impressionen. Kurz noch studierte er den Leberfleck auf ihrem Oberarm, die kurzgeschnittenen Fingernägel, deren Farbe merkwürdigerweise blassviolett war, sofern das Nachtlicht nicht allzu sehr täuschte. Dann wandte er sich ab.
    Darius stellte jetzt fest, dass das Zimmer L-förmig war. Der abknickende Teil lag im Dunkeln,

Weitere Kostenlose Bücher