Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
Vom Netzwerk:
ihm die Reitpeitsche. Er holte aus, und ließ das Gerät siebenmal auf den geschundenen Hintern und die Oberschenkel des Gefangenen niedersausen. Blut spritzte, sein Gekreische war so laut, dass sich einige die Ohren zuhielten.
    Verächtlich warf er die Peitsche hin.
    „War das alles? Dann würde ich gerne gehen“, sagte er kalt.
    Keine Antwort.
    Harald wandte sich um.
    „Ich brauche noch Ihren Namen. Man erwartet sicher einen Bericht.“
    Der Offizier schürzte die Lippen. „Mertens. SS-Oberscharführer Mertens.“
    „Ich würde Ihnen raten, mit dem da fürs erste aufzuhören. Sonst stirbt er noch, bevor er etwas sagen kann. Verfehlungen solcher Art schätzen wir nicht, wie Sie sicher wissen.“

    In seiner Wohnung angekommen wich seine Starre von ihm. Er hatte kaum die obersten Knöpfe seiner Uniform gelöst, da musste er schon auf den Abort rennen. Er schaffte es gerade noch, nicht neben die Schüssel zu kotzen. Sein Magen krampfte derart schmerzhaft, als wolle er auch noch den allerletzten Tropfen eines tödlichen Giftes aus dem Körper pressen. Dann sackte er in sich zusammen und bekam einen Weinkrampf, der ihn mehrere Stunden quälte.
    Heftige Alpträume plagten ihn seitdem. Oft wachte er schreiend nachts auf. Noch immer hörte er das Todesjammern des Gefolterten. Er hasste sich selbst für seine Tat mit der Reitpeitsche, auch wenn er sich die augenscheinlich enttäuschten Gesichter der SS-Schergen vor Augen rief. Er hatte ihnen getrotzt, sie hatten ihn nicht kleingekriegt. Niemand würde ihn jemals kleinkriegen. Außerdem wäre der Kerl ohnehin gefoltert worden, die paar Streiche mit der Rute änderten daran nicht viel.
    In seinem gehärteten Geist begann das Bild schließlich zu verblassen, mehr noch: Er begann, Verachtung zu entwickeln für jenen erbärmlichen Klumpen geprügeltes Fleisch, dessen Leben keinen Pfifferling mehr wert war. Ein Judenfreund also, einer, dem das Wohlergehen ebendieser Fremdlinge wichtiger war als das eigene Volk. Grimmig dachte er daran, dass sein neuer, arischer Pianist Heinrich Voß besser gewesen war als der Jude Roman Feygenbaum, präziser, brillanter.
    Aber das gehörte zu einem früheren Leben.

    Harald genoss bald einen noch glänzenderen Ruf als ohnehin schon. Sein Wissen, seine Präzision, seine Zuverlässigkeit und Korrektheit machten die Runde. Bald war er in den Rang eines Untersturmführers aufgestiegen und wurde Kriminalsekretär. Für Kriminaldirektor Obersturmbannführer Dr. Pfannzagl war der intelligente junge Mann wie geschaffen für Führungsaufgaben. Das abgebrochene Jurastudium war dabei noch nicht einmal hinderlich.
    „Die Aufgabe eines Juristen unserer Zeit“, erklärte er einmal seinem neuen Sekretär bei einem guten Portwein, „ist nicht die, Recht auszuüben, sondern die Gegner unseres Vaterlandes auszumerzen. Letztendlich haben wir hier die größte und bedeutendste Aufgabe, nämlich die Reinigung von innen. Dazu brauchen Sie den ganzen akademischen Firlefanz aus überlebten Zeiten nicht.“

    Harald war auch ein gerngesehener Gast bei Feiern und Festen. Er teilte den Tisch mit hohen NSDAP-Mitgliedern und ihren Frauen. Er wusste sich zu benehmen, erstaunte durch seine Bildung, faszinierte die alten wie die jungen Damen durch sein ernstes Wesen, durch seine feinsinnige Sprache. Selbst als Tänzer machte er eine gute Figur. Er tanzte den Tango mit dämonischer Leidenschaft, den Walzer mit Charme und Leichtigkeit. Seine Tischreden waren kultiviert und von leichtem, klugen Humor. Kein Makel war an dieser eigenartigen Erscheinung, dieser merkwürdigen Mischung aus Härte und Poesie, dieser düsteren Lichtgestalt, dieser unendlich weit entfernten Nähe.
    Harald betrachtete sie alle, jene Männer in Uniformen und Anzügen, ihre Frauen, Söhne und Töchter, die ihn unverhohlen schätzten, verehrten, ja begehrten. Mit leiser Genugtuung erkannte er, dass er sie zu beherrschen begann. Wie von selbst ergaben sich die freundlichen Beziehungen, die gegenseitigen Gefälligkeiten.

    Das Lager lag außerhalb. Es war mehrere Jahre zuvor aus dem Boden gestampft, und in den letzten Monaten vergrößert und ergänzt worden, denn es gab immer mehr Delinquenten, Volksfeinde und minderwertige Existenzen, die aus der Gesellschaft zu entfernen waren. Die Wachtürme, die wuchtigen Außenmauern, das Torhaus mit dem vergitterte Eingangstor, die Baracken und der Stacheldrahtzaun bildeten einen unangenehmen Kontrast zu dem sonnigen Frühlingstag, der heute war. Während die

Weitere Kostenlose Bücher