Die schlafende Stadt
Vögel zwitscherten, rauchten in größerer Entfernung die Schornsteine des Krematoriums, wie Haralds Begleiter erklärte. Mittlerweile bestand es aus etwa dreißig Baracken, in denen anstatt der ursprünglich konzipierten fünftausend Gefangenen mittlerweile mehr als doppelt soviel einsaßen, wie man ihm ebenso stolz wie klagend mitteilte.
Haralds Besuch war seit einigen Wochen bereits geplant, und es regte sich heftige Ablehnung in ihm, obgleich er die Notwendigkeit als wichtig erachtete. Immerhin war er ein hoher Repräsentant der geheimen Staatspolizei, Kriminalrat Obersturmbannführer Dr. Pfannzagl direkt unterstellt, und er registrierte befriedigt, dass Lagerkommandant Ströbele, der ihn jetzt begrüßte, einen Heidenrespekt für ihn empfand. Einmal mehr aber war es Haralds unnachahmliche Überlegenheit, die den Höherrangigen jetzt einschüchterte. Harald hatte ihn schnell als typischen Befehlsempfänger und Duckmäuser erkannt, und genoss dessen zittrige Eifrigkeit, obwohl ihn sein strammes soldatisches Kommandantengebaren, das keinerlei innere Entsprechung hatte, anekelte. Ein kriecherischer Wurm, dessen ganzes Selbstbewusstsein ausschließlich in der Uniform steckte. Harald wusste, dass solche Leute gefährlich waren. In der Wehrmacht, in der sein eigener Vater Soldat gewesen war, wären solche Leute gnadenlos untergegangen.
Als Harald aus dem Torhaus wieder ins Freie trat, verließ gerade ein Trupp Gefangener, mit Schaufeln ausgerüstet, das Lager in Richtung Kiesgrube. Magere, ausgemergelte Gestalten mit kahlrasierten Schädeln.
„Sie sehen schlecht aus, Ihre Gefangenen“, bemerkte Harald spöttisch zu Ströbele.
Der grinste. „Richtig. Bedauernswerte Kreaturen“, antwortete er, als sei dies ein besonderer Erfolg.
„Können Sie mir etwas über die hygienischen Zustände hier erzählen? Und vielleicht über die offenkundig sparsame Verpflegung?“, fragte Harald.
Das Grinsen gefror vorübergehend, entspannte sich aber angesichts Haralds aufmunternden Lächelns.
„Aber klar doch“, beeilte Ströbele sich zu sagen, „ich kann Ihnen sofort das Häftlingsbad zeigen! Aber ich würde Ihnen nicht dazu raten.“
„Warum nicht? Dazu bin ich schließlich hier.“
Harald wünschte sich förmlich, Missstände vorzufinden. Er war sich aber gewiss, eher früher als später welche zu entdecken. Er blieb freundlich, auch wenn sein Gegenüber nicht ahnte, dass Haralds Lächeln ein hämischer Ausblick auf eine bevorstehende Demütigung war.
Der SS-Hauptsturmführer führte Harald in die Duschräume, die dunkel und feucht wirkten, aber in Ordnung zu sein schienen. Es roch nach feuchtem Beton.
„Ist ja eiskalt hier“, bemerkte Harald.
„Klar. Inhaftierung ist halt kein Luxusdasein“, antwortete der Kommandant keck.
„Was Sie nicht sagen“, antwortete Harald knapp. „So wie die Leute aussehen, holen Sie sich hier den Tod. Als Arbeiter sind Sie dann unbrauchbar. Noch brauchen wir ein paar von ihnen.“
Ströbele schien jetzt zu begreifen, dass er hier doch keinen bedingungslosen Gesinnungsgenossen vor sich hatte.
„Gut. Was kriegen die Gefangenen denn zu fressen?“
„Na, meistens ’ne Suppe. Ist billig und gut.“
Harald war klug genug, die offenkundig schleichende Vernichtung der Gefangenen durch Arbeit und Unterversorgung, die ihm hier ganz offen vorgeführt wurde, lediglich mit leicht geschürzten Lippen und einigen sarkastischen Bemerkungen zu quittieren. Die Suppe hatte in erster Linie aus Wasser und einigen Kohlblättern bestanden. Einige der Gefangenen konnten sich offenkundig nur noch mit Mühe auf den Beinen halten. Einige röchelten oder zitterten und waren deutlich erkennbar krank. Alle wurden durch Wachen oder Kapos zur Eile angetrieben. Ein niedriges Gebäude in nächster Nähe erkannte Haralds geschulter Blick als Lagerbordell, und weiter hinten schloss sich der Bunker an, in dessen Inneren die Gefängniszellen und Verhörräume waren. Was dort stattfand, wusste Harald nur zu gut. Er ignorierte die leise Übelkeit, die sich regte.
Ströbele erläuterte sachlich den alltäglichen Ablauf. Aufstehen morgens um 4:45 Uhr, dann waren die Pritschen und Spinde picobello herzurichten, dann durften sich alle waschen und auf die Klos. Dann Morgenappell und Arbeitseinteilung, die Arbeit ging dann elf Stunden lang, bis zum Abendappell und der Nachtruhe um 21:00 Uhr.
„Wir haben hier Werkstätten aller Art“, erklärte er Harald gewichtig, „und sogar zwei
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