Die schlafende Stadt
heimlich nannte. Es gab keinen, mit dem er sich je freiwillig abgegeben hätte. Jetzt, wo die SA der SS eingegliedert worden war, waren noch mehr Proleten bei der Truppe. Er musste zugeben, dass sein Vater einmal mehr mit seiner Einschätzung richtig gelegen hatte.
Das Gestapo-Gefängnis war ein düsteres, klobiges Steingebäude, dem der gelbe Putz auch nichts Angenehmes verleihen konnte. Harald und die anderen wurden in die Amtsstube geführt und vom dortigen Kommandanten begrüßt.
„Sieh da, Scharführer Nachtmann! Sie machen ja eine steile Karriere in unserem Club!“
Der Kommandant war ein bulliger Kerl mit dicker Nase und hängenden Augensäcken, der offenbar reichlich dem Cognac zusprach. Seine Wangen waren voller geplatzter Äderchen und die Poren seiner Haut erinnerten an eine Kraterlandschaft. An seinem aufgedunsenen Körper sah selbst die schwarze SS-Uniform aus wie ein unregelmäßig gefüllter Sack.
„Wir haben ein kleines Problem mit einem Ihrer Delinquenten, und da dachten wir, Sie möchten sich einmal vor Ort die Sache ansehen. Damit Sie sehen können, ob wir zu Ihrer Zufriedenheit arbeiten.“
Dies klang so ironisch, dass Harald gleich merkte, dass man etwas im Schilde führte. Wollte man ihn auf die Probe stellen? Und warum sprach man ausgerechnet ihn so an und nicht die anderen?
Es ging in den Keller. Das spöttische Grinsen des Bulligen und sein merkwürdiger Tonfall gingen ihm noch nach. Was erwartete ihn?
„Hier unten sind unsere Zellen“, erklärte der SS-Wachmann, der voranging. „Schön geräumig, damit’s auch gemütlich ist!“
Harald betrachtete die Türen, die so eng aneinander standen, dass die Zellen alle höchstens eine Breite von eineinhalb Metern haben konnten.
„Wie groß sind die Zellen?“ wollte er wissen.
„Och, so etwa vier Quadratmeter sind das schon“, sagte der Wachhabende. „Unser Rekord sind unsere Spezialzellen, etwa 60 Quadratzentimeter groß. Darin packen wir manchmal vier Leute. Natürlich nur die, die nicht so brav waren.“
Er steuerte das Ende des kahlen Korridors an. Gellende Schreie erfüllten den Raum.
Der Wachhabende stieß die Tür am Ende des Ganges auf. Sie betraten einen größeren, kahlen, eiskalten Raum, in dem mehrere SS-Männer standen. Auf einem Stuhl saß ein SS-Offizier, seines Zeichens Oberscharführer, und rauchte eine Zigarette. Mitten im Raum standen zwei Holzböcke, die eine Metallstange trugen. An dieser Stange hing ein vollständig nackter Mann. Er war an den Hand- und Fußgelenken dort angekettet, und hing dort mit dem Kopf nach unten. Er wimmerte und heulte. Sein Hinterteil war knallrot und voller blutiger Striemen und seine Hoden waren geschwollen. An einigen Stellen hing ihm die Haut in Fetzen herunter. Dies rührte von der Reitpeitsche her, die der eine SS-Mann in der Hand hielt. Blut tropfte auf den rohen Betonboden.
„Ziemliche Sauerei, was, Herr Kriminalassistent?“
Harald war erstarrt. Nicht, dass er nicht gewusst hatte, dass man Häftlinge folterte. Doch dem direkt beizuwohnen, traf ihn in dieser Form unvorbereitet. Er unterdrückte einen heftigen Würgereiz. Augenblicklich kamen Erinnerungen in ihm hoch. Er kannte diese Situation. Dieses Ausgeliefertsein, der Schmerz, das unbewegte Gesichts seines Vaters, wenn er zuschlug, um seinen Sohn Disziplin zu lehren.
„In der Tat“, brachte er überraschend selbstsicher hervor. Nichts in seiner Stimme verriet, dass er aus der Fassung geraten war. „Und wozu das?“
„Na, der Vogel will nicht singen“, sagte der Offizier. „Zäh wie Leder, diese Judenfreunde! Wir wissen noch nicht, wem er alles falsche Pässe besorgt hat, aber das werden wir noch erfahren. Nicht wahr?“
Harald merkte, dass man ihn prüfend und spöttisch ansah. Da war also er, der Emporkömmling aus gutem Hause, der feine Pinkel, dem sie es heute einmal zeigen wollten.
„Kommen Sie, Herr Kriminalassistent! Zieren Sie sich nicht! Wir wissen, welch wertvolle Arbeit Sie leisten. Sie sind doch an der Wahrheitsfindung ebenso interessiert wie wir alle!“
Grinsende Gesichter um ihn herum. Welch eine Versammlung von Schmeißfliegen! Bauerntrampel ohne nennenswerte Schulbildung, Klugscheißer, Sadisten, Jammerlappen. Sie würden keinen Triumph bekommen.
Harald lächelte jetzt spöttisch zurück.
„Die Wahrheitsfindung ist einer der Säulen unserer Tätigkeit“, sagte er betont blasiert. „Glauben Sie mir, ich bin der Letzte, der darin Nachhilfe braucht.“
Er entriss dem SS-Schergen neben
Weitere Kostenlose Bücher