Die schlafende Stadt
Gesichtsausdruck als bösartig bezeichnen können, wenn ihre Augen nicht so schalkhaft und liebevoll geblickt hätten.
„Esther hat mir viel von Ihnen erzählt, als wir neulich unser Familientreffen hatten“, erklärte sie. „Und was mich da am meisten aufhorchen ließ, war die Schilderung Ihrer graphischen Meisterwerke.“
Leni blickte beschämt zu Boden.
„Ob es Meisterwerke sind, weiß ich nicht“, antwortete sie dann, „aber ich bemühe mich natürlich um Ausdruck und Qualität.“
Tante Rebecca blickte freundlich, aber ein wenig mitleidig. „‚Ausdruck und Qualität’. Das sind Worte, die viel und wieder gar nichts sagen. Zeigen Sie mir doch einfach mal ein paar Ihrer Bilder.“
Tante Rebecca wirkte wie jemand, der es gewohnt war, sich durchzusetzen. Nicht wie ein Feldwebel, nein, eher wie jemand, der gelernt hatte, über den Dingen zu stehen und daher forsch das Nötige tat oder veranlasste.
Leni sah ihr ins Gesicht, wie sie es immer tat, wenn jemand sie wirklich interessierte. Nur ein kurzer Augenblick genügte ihr, um Wesentliches zu wissen.
Ja, da war Traurigkeit. Verlust. Diese Frau hatte viele geliebte Menschen verloren. Sie war selbst dem Tode entronnen. Eine Fülle von Leid und Schmerz. Leni schwieg darüber und holte die Mappe.
Tante Rebecca betrachtete jedes Bild lange und ausführlich. Zu keinem sagte sie etwas.
Dann stieß sie auf jenes Bild, das Leni erst kürzlich geschaffen hatte. Sie hatte es noch niemandem gezeigt, denn es war das dunkelste, düsterste Bild, das sie je gemalt hatte. Ihre Hände hatten gezittert, als sie damit begonnen hatte, aber sie hatte es einfach malen müssen. Es war eine Vision aus einem Traum, den sie schon mehrmals gehabt hatte. Es zeigte eine Stadt am Meer, an einer steilen, felsigen Küste, mit Gebäuden aller Stilrichtungen, die sich höher und höher türmten, bis hin zu einer mächtigen Festung, die die ganze Stadt beherrschte. Es war Nacht, die See war ruhig, unheimlich ruhig, und der Vollmond beschien die schwarzen Paläste, Brücken, Kirchen und Häuser in einer unheimlichen Stille.
„Wo haben Sie dieses Motiv her?“
Tante Rebeccas Stimme klang auf einmal angespannt und erregt.
„Ich habe davon geträumt.“
„Wann?“
Die Frage schien von großer Wichtigkeit.
„Ich weiß nicht genau ... es ist schon Jahre her. Ich glaube, es war, bevor meine Schwester aus dem Koma erwachte. Seit diesem Traum wusste ich, sie kommt zurück zu uns.“
„Warum?“
„Ich träumte von einer Stadt wie dieser. Ich ging durch mehrere dunkle Gassen und traf sie dort. Sie umarmte mich und sagte mir, sie hätte ihr Studium jetzt beendet und käme jetzt zurück nach Hause.“
Leni war aufgeregt, ähnlich wie damals, als sie sich nach vielem Für und Wider entschlossen hatte, ihren Traum zu Papier zu bringen.
„Was kostet das Bild?“
Darüber hatte sich Leni noch nie Gedanken gemacht. Dass ihr und ihren Bildern jemand derartig viel Aufmerksamkeit und Achtung entgegenbrachte widersprach ohnehin völlig ihren bisherigen Erfahrungen.
Und jetzt wollte jemand sogar ein Bild von ihr kaufen ?
„Ich biete Ihnen zehntausend Mark. Der Preis erscheint mir angemessen.“
Leni wurde schwindelig. Soviel verdiente sie sonst in vier Monaten nicht.
„Sind wir uns einig?“
Leni nickte sprachlos. Tante Rebecca zückte ihr Scheckheft und füllte einen Scheck aus. Energisch riss sie ihn heraus und hielt ihn Leni mit zwei Fingern hin.
Wie im Traum nahm sie ihn in die Hand.
„Etwas zum Transportieren müssen sie mir schon geben“, sagte Tante Rebecca forsch. Sie bemerkte Lenis Unsicherheit.
„Sie sind außerordentlich begabt, Frau Schwarzkrug. Ich sammle seit vielen Jahren Kunst und Antiquitäten und weiß, wovon ich rede. Wo haben Sie Ihre Ausbildung gemacht?“
„Bei niemandem. Ich habe mir alles selbst beigebracht.“
„Umso bemerkenswerter. Haben Sie das Bedürfnis, sich noch zu vervollkommnen?“
„Aber natürlich. Ich weiß, dass meine Technik noch nicht ausgereift ist ...“
„Ob etwas ausgereift ist, lässt sich bei der edlen Kunst nie wirklich klären. Aber ich wüsste etwas für Sie, was Ihnen vielleicht noch mehr Sicherheit und Souveränität geben könnte.“
Auf Lenis fragenden Blick hin fuhr sie fort: „Ich habe einen guten Bekannten. Er heißt Marek, er ist ein hervorragender Künstler und ein guter Kunstpädagoge. Er wird Sie fördern und Ihnen das beibringen, was Sie noch brauchen. Das Wesentliche können Sie bereits, wie man unschwer
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