Die schlafende Stadt
erkennen kann.“
Ehe Leni etwas einwenden konnte, sagte sie: „Und Sie brauchen nichts dafür bezahlen. Ich werde die Stunden für Sie übernehmen.“
Ihre Blicke trafen sich. Es war wie ein gegenseitiges Erkennen.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll!“ stammelte Leni.
„Sie brauchen ja auch nicht viel zu sagen. Sie haben ein eindrucksvolles Bild gemalt, und dies hat Sie viele Stunden anstrengender Arbeit gekostet, von der außerordentlichen Idee dahinter ganz zu schweigen. Dafür bekommen Sie einen angemessenen Preis. So einfach ist das. Sie werden sich daran gewöhnen müssen, das zu erhalten, was Ihnen zusteht.“
Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich,
und bin ich nur für mich, was bin ich,
und wenn nicht jetzt, wann dann?
Hillel
D arius träumte. Er geht durch eine gebirgige Schneelandschaft, einige Sträucher und niedrige Bäume wachsen dort, in dickem Schnee teilweise völlig versunken, die Zweige zu Boden gedrückt. Gewaltige steile Felsen säumen den Weg. Ein bleigrauer Himmel geht über in einen dichten Nebel, der an feuchten Bereichen und nur teilweise zugefrorenen Bächen oder Sümpfen geradezu zu kleben scheint. Darius ist nicht allein. Er vermag jedoch nicht, seine Begleiter auszumachen, sie bleiben schemenhaft und am äußersten Rande seines Blickfeldes. Der eigene Atem gefriert förmlich auf den Lippen. Nur schleppend kommen sie vorwärts, jeder Schritt ist mühsam, erfordert eine erneute Willensanstrengung. Darius spürt den beständigen Impuls, sich umzuwenden, doch etwas hält ihn davon ab. Irgendetwas ist dort, von dem er weiß, dass es dort ist, von dem eine innere Stimme sich abzuwenden ihm befiehlt. Einer seiner Begleiter strauchelt und schlägt im Fall mit dem Kopf gegen seinen Unterarm.
„Ein neuer Auftrag!“
Beda hatte die Post geöffnet, die durch den Röhrenschacht ins Zielbecken gerollt war. Er hatte die stumpf schimmernde Metallkugel aufgeschraubt und den darin befindlichen Zettel entrollt. „Man wünscht, dass wir bis zum Neumond den vierten Quadranten erfasst und kartographiert haben.“
Den vierten Quadranten. Darius war noch nicht vollends in die Gegenwart zurückgekehrt. Noch nie hatte er geträumt und er war überwältigt und verunsichert von dem eigenartigen Bild, das die Tiefe seiner Seele ihm offenbart hatte. Noch nie hatte er Schnee gesehen, und dennoch wusste er, was Schnee ist und dass diese weiße, kalte Substanz überhaupt so heißt. Ja, vielleicht hatte er schon früher Träume gehabt, doch stets unbestimmt, von Andeutungen von Gefühlen, die schnell dem Gedächtnis entflohen.
„Da-ri-us!“ Bedas Stimme klang nicht ungeduldig, eher etwas mitleidig, und war voll beneidenswerter Ruhe. „Die Nacht ist derzeit so klar, dass wir das ausnutzen sollten.“ Das schimmernde Mondlicht fiel durch das merkwürdige kleine dreieckige Oberlicht auf das Fußende von Darius’ Lager.
„Wie spät ist es?“ fragte er, erkennend, dass der Mond bereits hoch am Himmel stehen musste.
„ Ziemlich spät!“
Beda hatte eine eigenartige Art, Lässigkeit und lehrerhafte Attitüden zu verbinden. „Ich erwarte dich im Observatorium. Du scheinst ja im Schlaf bereits mächtig gearbeitet zu haben.“
Das silbrige Licht auf Darius’ zerwühlter Bettdecke verschmolz mit der Erinnerung des glitzernden Schnees.
‚Den vierten Quadranten’!
Hatten sie nicht erst vor einiger Zeit den vierten Quadranten genauestens erfasst? Darius war es einen kurzen Augenblick lang, als wäre er in einem früheren Zeitabschnitt seines Lebens. Doch dann verwarf er den Gedanken. Er konnte sich an kein Detail des vierten Quadranten erinnern. Wahrscheinlich hatte er ihn mit einem anderen verwechselt.
Darius hatte seinen Rock angelegt und seine Haare geordnet. Abwesend stieg er die Wendeltreppe hinauf, wo Beda bereits am Teleskop saß, um das Firmament abzumessen.
„Jupiter steht genau im Trigen zu Orion“, bemerkte Beda ohne aufzusehen. Er hatte die Augen zusammengekniffen und starrte angestrengt durch das Objektiv. Gleichzeitig notierte er in großer Geschwindigkeit Zahlenreihen und astronomische Zeichen auf eine lange Papierrolle. Darius überflog die Aufzeichnungen.
Es gab kaum einen Zweifel.
„Beda ... Beda!“
Beda reagierte erst nach der dritten Anrede. „Was ist denn so schrecklich wichtig?“ Er nahm den Blick noch immer nicht weg vom Teleskop.
„Die Triangulation ...“ sagte Darius.
„Ja, und?“
„Das hatten wir doch schon einmal.“
Beda schien gerade etwas
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