Die schlafende Stadt
zerbrechliche Mädchen, als sei sie von jetzt ab immer dem Tode näher als jeder andere Mensch. Irmela hatte alle Sonderprivilegien, die Leni nicht hatte, und sie nutzte es aus. Ihr geringstes Jammern machte sie zum Mittelpunkt der Welt, und bei jedem Telefongespräch ging es um die neuesten Neuigkeiten und Probleme von Irmela. Wo sie gefördert und unterstützt wurde, hatte bei Leni alles von selbst zu laufen. Die schönen Aquarelle, die sie bereits damals malte, verschwanden ungesehen in den Schubladen, die Einsen, die sie nach Hause brachte, verpufften ohne Wirkung.
Auch fiel es offenbar niemandem auf, dass sie allmählich zu einer schönen Frau heranwuchs. Schlank war sie, hatte aber nicht das anorektische, zerbrechliche Äußere wie Irmela. Ihr Körper hatte die Form einer klassischen griechischen Statue, nur dass ihre Hände und Füße sehr zierlich und filigran waren. Das eindrucksvollste, schönste an ihr war aber ihr Gesicht. Ernst und tief war es, fast etwas dämonisch, die strahlenden grünen Augen umrahmt von sehr dunkelbraunem, fast schwarzem Haar, eine lange, gerade Nase und volle, geschwungene Lippen voller Sinnlichkeit, wie eine dunkle Fee aus einem mythischen vergessenen Reich. All dies versteckte sie jedoch hinter unauffälliger Kleidung. Ihr Blick ging oft nach innen, um dann verhalten und vorsichtig die Welt zu beobachten, die sie doch so wenig willkommen hieß und die sie sehnsuchtsvoll sich gestattete, aus der Ferne zu betrachten, um dann aber doch wieder auf eine Weise teilzuhaben und Dinge wahrzunehmen, die den meisten ihrer Mitmenschen verborgen blieben.
Leni machte als einzige nicht das Abitur. Man traute es ihr nicht zu. Eine Lehre sollte sie machen, das sei besser für sie. An ihren Noten hatte es sicherlich nicht gelegen. Und so ließ sie ihre große Leidenschaft, das Malen und Zeichnen, aber überhaupt das ganze Denken und Philosophieren, das Erforschen von all den wunderbaren Dingen, die Richard ihr gezeigt hatte, vor sich hindämmern, um eine Ausbildung als Krankenschwester zu machen. Damit war sie untergebracht, machte etwas Solides.
„Sicherheit“, eines der Zauberworte ihres Vaters. Sicherheit zuerst, Freude zuletzt. Vor allem arbeitete sie auch dort wie üblich für andere. Doch nicht immer – zunehmend verwendete sie mehr Zeit für sich.
Gerade in letzter Zeit waren die Ideen nur so geflossen. Sie hatte intensive Träume voller wundersamer Bilder, von denen ein großer Teil in ihrem Gedächtnis haften blieb. So war ihr erstes wirklich eigenständiges Werk entstanden, ein wahrhaft träumerisches Bild von einem sonnenbeschienenen Renaissance-Korridor mit schweren Vorhängen und einem brüchigen Marmorfußboden, der über und über von Blüten bedeckt war, scheinbar achtlos hingeworfen. Das offene Portal im Hintergrund zeigte auf einen Park. Das Bild wirkte wie eine Erinnerung, und alle Menschen, denen sie es bisher gezeigt hatte, waren darin versunken und fingen an, etwas von sich zu erzählen.
So war bereits eine ansehnliche Mappe mit großartigen Zeichnungen entstanden: Der grünliche Palast, von dem man meinte, er stünde unter dem Meer, dessen orangefarbene Vorhänge dem Betrachter entgegenwehten; die merkwürdige Lichtung im Wald, wo der einsame Baum stand, der auf jemanden zu warten schien und die bedrückte Abendgesellschaft von vornehmen Damen und Herren, die den Betrachter anblickten, als sei er ein Monstrum. Geschnäbelte Dämonen, die mit eigenartigen Utensilien bewaffnet im Morgengrauen durch eine Stadt huschten. Düster waren sie, wenn nicht sogar albtraumhaft zuweilen, und doch voller Schönheit und Raffinesse.
Dann trat ein Ereignis ein, das in ihrem Leben bisher nicht vorgekommen war.
Leni bekam Besuch von einer eleganten, älteren Dame, die sich als die Großtante von Esther, ihrer besten Freundin vorstellte. Als sie sie im Türrahmen erblickte, wusste sie sofort: Das musste „Tante Rebecca“, sein, von der Esther ihr erzählt hatte!
Tante Rebecca sah eindrucksvoll aus. Obgleich sie schon über siebzig sein mochte, hatte sie eine bemerkenswerte Attraktivität, und sie tat nichts, um diese zu verbergen. Sie war recht schlank, hatte lange, graue Haare, trug ein teures, elegantes Kleid, darüber einen Pelzmantel. An ihren zartgliederigen Händen waren viele dicke Ringe, und sie trug mehrere prächtige Ketten um den Hals, deren Wert Lenis Vorstellungen überstieg. Sie hatte ein zerfurchtes, verbittert anmutendes Gesicht, und man hätte ihren
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