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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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vornüber, als wollten sie jeden seiner Schritte beobachten.
    Das gewaltige, barocke Marmorportal war an dem gewohnten Platz. Dahinter stand der Steinerne Wächter, der, wesentlich älter als das Portal, die Bürger der Stadt beschützte. Es war eine monumentale Figur mit Rüstung, Helm und Hellebarde im Stil der Frührenaissance, versehen mit einer dämonischen bärtigen Fratze mit geblähten Nüstern, stierenden Augen und scharfen, langen Schneidezähnen, zur Abschreckung aller bösen Geister, denen sich verschreckte Gemüter vergangener Zeiten ausgesetzt wähnten. Darius schritt vorbei und kam auf den achteckigen Platz, den er seit Jahren wieder hatte aufsuchen wollen. In seiner Mitte befand sich ein Brunnen, dessen Reliefs die wundersame Geschichte des heiligen Ylgar illustrierten, der in die Hölle hinabgestiegen war, um von dort ein magisches Buch zu beschaffen, mit der er seine dahinsiechende Geliebte von einer tödlichen Krankheit zu heilen hoffte. Darius sah gebannt auf die letzte Szene, in der der tapfere Ritter, in seinem Vorhaben erfolgreich, dennoch von den bösen Mächten in die Hölle hinabgezogen wurde, von seiner genesenen Geliebten beweint. Er streckte seine Hand aus und berührte zögerlich die steinernen Unholde, die ihr Opfer in den Schlund des Verderbens zogen. Der Ausdruck der Angst im Gesicht des Ritters war von beklemmender Echtheit. Darius sah auf und betrachtete die Häuser, die den Platz säumten. Still war es, nicht einmal das Rauschen des Meeres war zu vernehmen. Das Plätschern des Brunnenwassers war der einzige filigrane Klang in diesem Schweigen.
    Ein einsamer Kieselstein rollte irgendwo über einige Treppenstufen. Darius fuhr herum. Weit über ihm auf dem steil ansteigenden Hang ging eine hochgewachsene, bezopfte Gestalt mit weitem Umhang und Dreispitz eine Stiege herauf, und verschwand in einem Torbogen. Kurz war das Miauen einer Katze zu hören. Eine Wolke schob sich vor den Mond und verdunkelte den ganzen Platz.
    Es war keine Wolke. Etwas war anders.
    Der Platz hatte sich verändert. Etwas Großes, Drohendes hatte sich knirschend hinter ihm erhoben und blickte lüstern auf ihn herab, ein Unhold aus einem gespenstischen Schattenreich, höhnisch emporgereckt, der nun stöhnte ob der neugewonnenen Kraft.
    Darius fuhr herum. Schräg hinter ihm stand plötzlich ein Haus.
    Ein spitzgiebeliges, gedrungenes Haus, dessen Schatten auf einmal den ganzen Platz bedeckte. Es war offenbar von beträchtlichem Alter, aber dennoch hatte er es gerade überhaupt nicht bemerkt. Der Laubengang dagegen, den er gleich hatte weitergehen wollen, war verschwunden. Darius blickte unruhig umher.
    Dort! Das Haus zu seiner linken erschien ihm auf einmal wesentlich höher als noch vor kurzem, als wäre es gewachsen. Und ...!
    Darius griff an den Brunnenrand. Der Brunnen war real, er fühlte deutlich den glatten, schon porösen Marmor unter seiner Hand.
    Was für Streiche spielte ihm sein Bewusstsein? War er überhaupt noch auf dem gleichen Platz?
    Er starrte auf den Boden. Die vertrauten Steinpflaster, wie überall in der Stadt, grau, bucklig, um den Brunnen herum feucht schimmernd. Das schwarze Moos dazwischen. Alles so, wie er es schon immer kannte.
    Hastig sah er auf. Das Haus war immer noch da, aber er hatte plötzlich den Eindruck, es habe sich noch weiter aufgerichtet und atme.
    Unruhig abwartend fixierte er das Gebäude. Vorsichtig ging er darauf zu und berührte die rissige Fassade. Das obere Stockwerk ragte über einen Meter weit in den Platz hinein, und wurde seinerseits wieder von dem vorstehenden Dachgeschoss überragt, als könnte es jeden Augenblick vornüber kippen. Hinter dem einzigen Dachfenster brannte ein schwaches Licht.
    Darius schüttelte den Kopf. Hatte er sich den Laubengang wirklich nur eingebildet? Ein Trugbild seiner Erinnerung, das die Realität völlig überwuchert hatte? Kein Wunder bei der ständigen Benommenheit.
    Doch wieder zuckte er zusammen.
    Etwas knarrte.
    Das Haus neben dem Marmorportal, durch das er den Platz betreten hatte, hatte einen neuen Erker bekommen. Dick und wuchtig beulte er sich aus dem Mauerwerk heraus, wo zuvor die glatte Wand gewesen war.
    Darius begann, tief und konzentriert zu atmen, ein leichter Schwindel hatte sich seiner bemächtigt und drohte, sich auszubreiten. Ausatmen, ruhig ausatmen. Er war sich ganz sicher, dass der Erker gerade noch nicht da gewesen war. Und dennoch sah er aus, als sei er seit jeher Bestandteil des Hauses gewesen.
    Ungelenk, als

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