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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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für ihn ausgesprochen Wichtiges entdeckt zu haben. Er machte sich einige Notizen, kontrollierte die Uhrzeit an der astronomischen Uhr neben der Eingangstür und begann emsig zu schreiben. „Es gibt vieles, was wir schon einmal so oder ähnlich hatten“, antwortete er schließlich.
    „Aber deine Aufzeichnungen!“ sagte Darius. „Sie kommen mir so bekannt vor. Als hätten wir das alles schon einmal gemacht!“
    Beda wandte sich ihm mit seinem üblichen, leicht gelangweilten, teils belustigtem Blick zu. „Dann könnten wir uns das alles ja sparen“, sagte er betont affektiert, „vielleicht habe ich Dummkopf wieder mal etwas nicht mitbekommen?“ „Leider“, fuhr er wieder etwas ernster fort „sind mir keine Aufzeichnungen oder Karten über den vierten Quadranten bekannt. Noch, dass wir welche in unserem Archiv hätten. Überzeuge dich selbst!“
    Darius’ Gewissheit bröckelte augenblicklich.
    „Glaube mir, mein Freund, das ist schon alles in Ordnung hier.“ Beda kritzelte ein paar Zahlen auf ein Papier. „Du hast das typische Erschöpfungssyndrom, das ich selbst so gut kenne. Man schläft schlecht, fühlt sich matt und dumpf. Dann kommen komische Ideen und Déjà-vus, Schwindel und ähnliche Annehmlichkeiten, und nach ein paar Tagen ist alles wieder im Lot.“
    Die Erklärung beruhigte. Tatsächlich hatte sich eine besondere Ermattung in Darius ausgebreitet, wie ein langsam wirkendes Gift, dessen Wirkung nicht mehr kontrollierbar ist. Gleichzeitig tat die Zuversicht, dass dies bald vorübergehen würde, eine gute Wirkung.
    „Was meinst du“, sagte Beda, „was täte dir jetzt besser: ein Spaziergang, Bettruhe, oder ein bisschen kreative Arbeit am Teleskop?“
    Darius hatte zu gar nichts Lust. Gleichzeitig verspürte er jene innere Unruhe, die der Vorstufe einer angstvollen Erwartung ähnelt, so als fürchte er sich, ohne aber manifest Angst zu verspüren. Er überlegte kurz.

    Der Mond war im Abnehmen begriffen, und das Gleißen seines Lichtes war einem sanften Scheinen gewichen. Schwarz und ruhig wogten die Wellen des endlosen Ozeans vor der Hafenmauer, und die Leichtigkeit der Stille erfüllte die ganze Stadt. Darius war der einzige, der durch die Straßen schlenderte, nur wenige Menschen bewegten sich in den Schatten der Mauern, doch die zahlreichen, durch Kerzenschein erleuchteten Fenster zeugten von reger Umtriebigkeit hinter den dicken Mauern. Selten sah er einige Gestalten hinter sich rasch schließenden Türen verschwinden. Nur die unvermeidlichen Katzen lungerten träge herum. Überall saßen sie oder streiften umher, teilnahmslos, teils elegant, teils räudig, abwartend, lauernd, verschlagen, ruhelos, ohne erkennbares Ziel.
    Darius jedoch hatte anderes im Blick. Außerhalb des Klosters fühlte er sich mit einem Mal befreit, wie ein Schüler, dessen Unterricht ausfällt. Zügig schritt er voran, mit plötzlicher, leise prickelnder Erregung und einer vorsichtig erwachenden Neugierde. Die noch eben empfundene Schwäche hatte sich fast gänzlich verflüchtigt, gleich Bodennebel, der sich auflöst in der zunehmenden Wärme einer sommerlichen Brise. Fast hastig durchschritt er die vertrauten Straßen der näheren Umgebung, erklomm einige schmale Treppen, begab sich absichtlich auf unbekannte, neu zu entdeckende Wege. Doch selbst die Seitengassen kannte er aus zahlreichen Spaziergängen, und dies ließ ihm die ganze Stadt wie ein Gefängnis erscheinen. Kein Entrinnen aus immer derselben Umgebung. Darius war auf einer Brüstung angelangt, von deren erhöhter Lage er weit sehen konnte. Tief unter ihm war das gewohnte Häusermeer, in weiter Ferne die endlose See, über ihm das riesenhafte, erhabene, uneinnehmbare Schloss mit seinen unerreichbaren Türmen. Das Kloster schmiegte sich, weit entfernt, ganz klein und fast schutzlos an den großen Felsvorsprung, auf den es erbaut war, und in seiner Silhouette war deutlich die Kuppel des Observatoriums auszumachen, in der Beda gerade saß.
    Darius verweilte nicht lange. Er lenkte seine Schritte über eine von zahlreichen Häusern bebaute Brücke, und erreichte endlich einen ihm weniger vertrauten Teil der Stadt. Er erinnerte sich vage, hier schon einmal gewesen zu sein, doch waren viele Details seinem Gedächtnis entschwunden. Die lange einsame Gasse mit den Häusern im Gründerzeit-Stil hatte er schon mehrmals durchlaufen, öfter noch hineingeblickt, bis zu ihrem Ende. Dennoch erschien sie ihm enger als zuvor, die Häuser höher, und sie neigten sich

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