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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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hat braune Haare und braune Augen. Er ist Schriftsteller. Seinen ersten Roman hat er schon mit einundzwanzig Jahren veröffentlicht.“
    „Ein Überflieger! Hm. Schriftsteller! Einfühlsam und sensibel?“
    „Sehr! Und sehr zärtlich. Und trotzdem sehr männlich!“
    „Ich dachte, solche Männer gibt’s gar nicht.“
    „Ich kann es selbst noch kaum glauben. Aber ich bin unheimlich glücklich.“
    „Sieht man. Wie habt ihr euch denn kennengelernt?“
    Leni lächelte bitter.
    „Er hat mich damals gefunden“, sagte sie zögernd, „unten am Fluss, als ich praktisch tot war. Ohne ihn gäbe es mich nicht mehr.“
    „ Der ist das!?“
    Esther war entgeistert. Ihre großen runden Augen wirkten jetzt wie zwei Scheinwerfer.
    „So ist es. Schon komisch, wie sich die Dinge manchmal fügen.“
    Esther schwieg beeindruckt. Das war besser als Rosamunde Pilcher.
    „So sarkastisch es auch klingt: Ausgerechnet dem schlimmsten Ereignis meines Lebens verdanke ich womöglich mein größtes Glück“, sagte Leni nachdenklich.
    Esther nippte an ihrem Kaffee.
    „Und du bist sicher, dass er dich auch liebt?“
    „Ganz sicher.“
    „Hat er es dir gesagt?“
    „Nein, noch nicht. Nicht mit Worten.“
    „Wie kannst du dir denn dann so sicher sein?“
    „Ich habe es gesehen“, sagte Leni. „Er ist die große Liebe meines Lebens. Und ich bin die seine.“
    „So sicher möchte ich auch mal sein“, sagte Esther und dachte an ihre erste Liebe, Karl, der sich von einem strahlenden Prinzen ziemlich schnell in einen hässlichen Frosch verwandelt hatte, nämlich genau dann, als es um Sicherheit und Verantwortung ging. Aber Karl war ein kindischer Penner, Schulabbrecher, immer gegen alles und für nichts. Ein echter Schriftsteller war freilich etwas anderes, besonders einer, der auch noch erfolgreich war.
    „Schön ist das“, sagte sie daher, „ich gönne es dir von ganzem Herzen.“

    Inzwischen war es sechs Uhr morgens. Die Übergabe fand statt, und es war Zeit, nach Hause zu gehen. Heute war wenig los gewesen.
    Leni schritt aufgeregt die Stufen hinunter. Ob er da sein würde? Gewiss, es war eine unmögliche Zeit, aber sie wäre nicht überrascht, wenn ...
    Ihre Einschätzung hatte sie nicht getrogen. Berthold stand in der Eingangshalle und wartete auf sie.
    Und noch jemand.
    Leni stockte der Atem.
    Hinter ihrem geliebten Berthold stand, freundlich, wenn auch etwas scheu lächelnd, der Mann aus ihrem Traum, aus ihrer Vision. Er hatte die gleichen schwarzen, etwas längeren Haare, und trug einen Gehrock mit weißem gestärktem Hemd und einem Binder. Vornehm sah er aus, wie ein aristokratischer Herr aus einem alten Film. Er hätte Bertholds älterer Bruder sein können.
    „Ist er das?“ fragte Esther flüsternd.
    „Ja, das ist er“, antwortete Leni gespannt.
    „Er sieht wirklich nett aus“, gab Esther zu. Den Fremden erwähnte sie mit keinem Wort.
    Berthold eilte auf Leni zu und umschlang sie mit seinen Armen. Eine Woge von Glück durchflutete Leni. Dann küssten sie sich innig, bis Leni Esther vorstellen konnte.
    Der Fremde hielt sich vornehm im Hintergrund. Er beobachtete die Szene mit einem liebevollen, aber melancholischen Blick, so als habe ihm etwas einen Stich versetzt.
    Leni sah zu ihm hin und lächelte ihm zu. Sie winkte kurz. Ein Ausdruck des Verstehens trat auf sein Gesicht.
    Vor den Türen verabschiedeten sie sich von Esther und gingen Arm in Arm los.
    Leni strahlte Berthold an.
    „Dass du mich um diese Zeit abholst ...“
    „Ich habe die ganze Nacht auf diese Zeit gewartet“, sagte Berthold.
    „Und du hast jemanden mitgebracht“, sagte Leni.
    Berthold schwieg verdutzt.
    „Jemanden mitgebracht?“
    „Ja.“
    „Du meinst ...?“
    Berthold wandte sich nervös um. Nichts war zu sehen.
    „Ich sehe nichts“, bekannte er. „Du meinst: Er ist da?“
    „Ja. Er steht direkt hinter dir.“

Das Tal hat die Erinnerung schon lange verloren;
Der Strom fließt schweigend untertags dahin.
Den Wind, die Sonne und den Regen ließ er droben;
Tief in die Dunkelheit hat er sich nun zurückgezogen,
Mit dem Geheimnis unseres Lebens, das er fand.
Denn dies Geheimnis hat der Fluss gefunden;
Sein Wissen gaben ihm die Hügel mit;
Von Düsternis, vom Bösen jener finstren Eulen,
Von Schönheit von der Buntheit der Narzissen.
Sein Wasser hütet weiter die Erinnerung;
An Alter und an Jugend, an Freude, Tod und Schmerz.
Es dringt hinab ins Dunkel ohne Sterne,
Zurück, hinab zur Unterwelt der Nacht.
    William Fryer HARVEY, Miss

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