Die schlafende Stadt
haben?
Vorsichtig schob er den Stachel wieder ein und legte es in seine Behausung zurück.
Gedankenvoll nahm er seine Geige in die Hand. Er dachte an Haralds Cellosonate.
Mozart.
Er konzentrierte sich kurz und machte sich innerlich leer. Eine Melodie tauchte auf.
Er spielte. Jetzt erinnerte er sich. Es war Mozarts Violinkonzert G-Dur.
Seine Finger tanzten wie von selbst auf dem Griffbrett. Die Musik floss förmlich durch ihn hindurch. Wundervolle Musik.
Dankwart sah auf und verhielt. Jemand stand in seiner Tür.
Es war Vulphius, ein kleiner Mann mit relativ großem Kopf, noch relativ jung, mit weißgepuderter Perücke, Justaucorps und Schnallenschuhen. Er war bisher recht zurückhaltend gewesen. Dankwart war bei seinem Anblick immer etwas irritiert gewesen, denn Vulphius wirkte oft, als stünde er kurz vor einem Lachkrampf, auch, wenn man den Eindruck hatte, dass er in Wahrheit traurig war. Dankwart hatte ihn bisher nur am Rande bemerkt.
Jetzt wirkte er ungewöhnlich wach und präsent. Seine Miene war jetzt sehr authentisch. Irgendetwas war verändert.
„Dieses Stück, das du da spielst ...“, begann er. Er hatte einen österreichischen Akzent, der Dankwart sehr vertraut war.
„Das Violinkonzert?“
„Ja. I kenn’s.“
„Das freut mich!“ sagte Dankwart. „Dann beginnst auch du, dich zu erinnern?“
„Ja“, sagte Vulphius, „ich erinnere mich. ’S is’ von mir.“
„Von dir? Aber es ist von Mozart!“ antwortete Dankwart lachend.
„Ich weiß“, sagte er lächelnd. „Du wirst mich vielleicht für narrisch halten ... aber ich bin Mozart. Ich weiß es wieder. Seit eben.“
Dankwart stand da wie angewurzelt. Er sah in die großen, etwas müde dreinblickenden Augen, die von unzähligen Lachfältchen umsäumt waren.
Er könnte es sein.
„Du reist nach drüben, nicht wahr?“ fragte Vulphius.
„Ich ... ja ... es ... es ist mir schon mehrmals geglückt ...“
Dankwart war jetzt aufgeregt.
Vulphius sah wie in weite Ferne.
„Ich hatte die Erinnerung daran völlig verloren“, sagte er dann. „Aber vor langer, langer Zeit, da tat ich desgleichen. Ich vermeine sogar, dass es damals ganz normal war. Es ging ganz leicht, sofern man Sinn und Talent dazu hatte. Ich schloss bloß die Augen und träumte mich zu den Menschen, mit denen mich mein Herz und meine Seele verband.“
„Und dann warst du bei Ihnen“, folgerte Dankwart, „genau wie ich.“
„So ist’s. Und dann fiel ich der Dumpfheit anheim, so wie all anderen auch. Und ich vergaß, wer ich war. Ich vergåß sogar mei’ Musi.“
Dankwart sah ehrfürchtig auf die schmale, kleine Gestalt vor ihm.
„Mir fehlen die Worte“, gestand er nach einer Weile. „Und ich empfinde große Dankbarkeit. Die Musik war es unter anderem, die mich wieder zum Leben erweckt hat. Vielleicht wird sie uns sogar retten.“
„Dies wär’ für mich a Glück, mit dem ich so nicht goarnet g’rechnet hätt’. Daher såg’ ich auch dånkschön. Ohne Menschen wie di’ würd’ mei’ Musik nit weiterleb’n.“
Dankwart war noch immer ungläubig, wen er da vor sich hatte.
„Es ist sicher kein Zufall, dass ausgerechnet wir uns hier treffen, an diesem Ort.“
„Sicher nicht.“
„Ich heiße nicht mehr Darius, so wie früher. Ich bin jetzt wieder Dankwart. Wie soll ich dich nennen?“
„So, wie mein ursprünglicher Name war: Wolfgang.“
„Nicht Amadeus?“
„Um Himmels Willen, na. So hab’ ich nie g’heißen. Manchmal unterschrieb ich mit »Wolfgang Amadé« , aber das war schon all’s.“
Dankwart lachte jetzt. Wolfgang war ein ganz normaler Mensch, wie er auch.
„Ich habe durch meine Reise meinem eigenen Sohn das Leben gerettet“, erzählte er. „Ich habe mich in meine damalige Frau verliebt. Und ich war bei meinem Enkel. Und meinen Urenkel habe ich jetzt auch gesehen.“
Wolfgang lächelte melancholisch.
„Des is’ schön, nicht?“
Dankwart nickte. „Ja. Sehr schön.“ Er war jetzt sehr gerührt.
„Ich war auch bei meinen Kindern“, sagte Wolfgang, „und bei meiner Frau. Und ich tat etwas, was ich einfach nicht hab lassen können: ich habe mein letztes Werk, das Requiem, vollendet. Ich träumte mich in meinen Schüler und schrieb es eigenhändig zuende.“
„Du warst es selbst!?“
„Natürlich. Mein Schüler hätt’ das nie so gekonnt. Ich hatte es aber vergessen. Bis vor kurzem.“
„Das hielte im Diesseits niemand für möglich!“
„Darauf scheiß’ ich mit Vergnügen einen großen Haufen. Hauptsache
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