Die schlafende Stadt
im hinteren Teil des Raumes. Er war groß und schlank, und trug einen dunklen Anzug. Er kehrte Dankwart den Rücken zu, denn er stand an einer Art Hausbar und öffnete dort eine bauchige Flasche. Er schenkte sich einen großen Cognac ein und wandte sich dann in Richtung des großen, bequemen Sessels, der neben dem eleganten Biedermeiertisch stand.
Dankwart zuckte zusammen.
Es war Harlan.
Er schien Dankwart nicht zu bemerken, obwohl er direkt neben dem Plattenspieler stand. Er setzte sich in den Sessel und schwenkte seine mit rotgoldener Flüssigkeit gefülltes Glas. Dann nippte er kurz, schloss die Augen und lehnte sich zurück, um sich ganz der Musik hinzugeben.
Dankwart begriff jetzt: Dies war Harald . Harald Nachtmann.
Gebannt sah er das vertraute Gesicht. Ernst, markant, der schwere, dunkle Ausdruck, die charakteristischen Brauen. Sorgenvoll sah er aus, als trage er eine schwere Last.
Harald öffnete jetzt die Augen und griff in den geöffneten Lederkoffer auf dem Tisch neben ihm. Er ergriff ein schmales, querformatiges Buch, das wie ein Photoalbum aussah. Er nahm einen weiteren Schluck und blätterte darin.
Dankwart näherte sich geräuschlos. Er blickte auf den Koffer. Eine verzierte, ovale Messingmedaille auf dem schönen, rostroten Lederdeckel trug eine verschnörkelte Gravur:
Harald hatte inzwischen an den Anfang des Albums zurückgeblättert und besah sich das einzige Bild, das auf dieser Seite war. Es war offenbar das Hochzeitsphoto seiner Eltern.
Dankwart trat hinter Harald und sah ihm über die Schulter. Es waren tatsächlich seine Eltern, denn darunter stand:
Wolfgang und Elizabeth Nachtmann, geb. Murray, 12. August 1912.
Harald gab einen leisen Laut von sich, es klang wie ein bitteres, etwas verächtliches Schnauben. Er blätterte weiter. Dankwart sah in der kurzen Zeit, die er auf das Bild blicken konnte, einen stattlich aussehenden, hochgewachsenen Mann mit einem durchdringenden Blick, und einer schlanken, sehr ernst wirkenden Frau mit sehr hellen Augen.
Harald blätterte zügig weiter. Dankwart erkannte die einzelnen Bilder nur flüchtig, bis dass Harald bei einem großen Bild anhielt und es lange betrachtete.
Es zeigte seine junge Mutter in einem schwarzen, eleganten Kleid, mit einem kleinen Jungen auf dem Schoß. Sie hatte sehr helle, leuchtende Augen und ein markantes Gesicht, das streng ausgesehen hätte, hätte sie nicht in die Kamera gelächelt. Obgleich ihre Augenbrauen tiefdunkel waren, wirkte ihr langes Haar schneeweiß.
Eleonora.
Sie war es. Unverkennbar.
Dankwart wollte seinen Augen nicht trauen.
Harald löste das Bild aus den Klebeecken und nahm das Photo in die Hand. Das Album schlug er zu und legte es auf den Tisch.
Lange starrte er darauf ohne jede Regung. Dankwart ging ein wenig zur Seite und sah ihn an.
Haralds Gesicht war ernst und gefasst wie immer. Er sah konzentriert und ruhig aus, doch das Vibrieren seiner Unterlippe zeigte, dass er weinte.
Eine Träne rann über das ausdruckslose Gesicht. Harald trank noch einen Schluck aus seinem Schwenker. Dann stellte er ihn auf dem Tisch ab, ohne ihn gänzlich geleert zu haben und öffnete eine Schublade.
Er hielt jetzt eine Pistole in der Hand.
Er vergewisserte sich, dass sie geladen war.
Dankwart war wie gelähmt. Jetzt merkte er, dass er zitterte, dass sein Herz wie wild schlug, als wollte es zerspringen. Er wollte sich bewegen, er konnte es nicht. Es war wie ein Krampf, der seinen ganzen Körper heimsuchte. Er wollte rufen, doch seine Stimme versagte. Stattdessen taumelte er einen Schritt zurück.
Harald sah nochmals auf das Bild seiner Mutter mit dem kleinen Jungen, der er einst gewesen war.
Dann steckte er den Lauf der Pistole in den Mund und drückte ab.
Es knallte laut. Sein Kopf wurde nach hinten gerissen. Blut spritzte aus seinem Hinterkopf. Dann sackte sein Haupt schlaff und entseelt auf die Brust. Auf dem Lederpolster der Sessellehne blieben ein Loch und ein großer, hellroter Klecks zurück, umgeben von Blutspritzern. Das Blut rann in dicken Tropfen nach unten. Blut quoll auch aus seinem Mund und seiner Nase, es rann von seinem Hinterkopf seinen Hals entlang und färbte das weiße Hemd dunkelrot.
Die Pistole fiel aus seiner erschlafften Hand und schlug dumpf auf dem samtigen Teppich auf.
Erst jetzt hörte Dankwart wieder die Musik. Der erste Satz war zu Ende. Genau jetzt, in dieser Sekunde.
Sein Kiefer hatte sich so verhärtet, dass ihm jetzt Mund und Seitenstränge wehtaten. Seine Hände hatten
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